Der verschwundene Text. Zu Eislers "Rotem Wedding" und DDR-Hymne aus heutiger Sicht

Anlässlich eines Eisler-Kolloquiums1 bemerkte der Komponist Reiner Bredemeyer, Eislers Textvertonungen seien oft deklamatorisch misslungen und nannte als Beispiel "Anmut sparet nicht noch Mühe" , wo das Wort, auf das es in erster Linie ankommt, "Anmut", bloss als Auftakt in zwei Achteln gesetzt ist (Notenbeispiel 1). Bredemeyers Feststellung ist als solche nicht zu bestreiten, wohl aber die in der Kritik implizierte Forderung, dass es in einem Lied in erster Linie darauf ankäme, den Text zu optimaler Verständlichkeit zu bringen. Nun wäre es jedoch seltsam, wenn ein Komponist, der von Filmmusik forderte, sie müsste "ihre Aufgabe unter Verzicht auf die Reduplikation alles ohnehin Sichtbaren leisten"2, die Musik im Lied dazu benützte, das gedichtete Wort wirkungsvoll aufzusagen. Diese "frühbürgerliche Vorstellung von der dienenden Punktion der Musik"3, wie sie etwa den Goethe-Vertonungen von Schulz, Reichardt und Zelter zugrunde liegt, wurde bereits von Schubert überwunden, in dessen Tradition auch Eisler steht: "Bei ihm [Schubert] zieht die Musik das Gedicht in sich hinein, verwandelt es in einen Bestandteil der Komposition. Pointiert gesagt, zerfallen die Verse in Wörter, Phoneme, Laute, in eine zusätzliche Geräuschdimension, aus der gelegentlich ein Wort, ein Bild als Assoziationsauslöser auftaucht. […] Die Autonomie bedeutet, dass die komponierten musikalischen Charaktere selbst bereits die Interpretation des vertonten Textes sind."4 Auf die von Bredemeyer herangezogene Stelle bezogen hiesse das, dass die Anmut, von der der Text spricht, in den Charakter der Musik selbst eingegangen ist: Auch wenn das Wort gar nicht verständlich wäre, drückt die Musik deutlich genug aus, dass sich die Autoren ein neues, gutes Deutschland wünschen, welches von Haltungen geprägt wäre, die dem hergebrachten Nationalcharakter eher fremd sind. Wer den Komponisten beim Wort nimmt, könnte allerdings auf den Gedanken kommen, dass dieser an die Änderung nicht so recht glauben mochte: die Worte, die er deklamatorisch heraushebt, sind "sparet" und "Mühe". Der böse Hintersinn , dass da vor allem Mühe sein werde und an Anmut hauptsächlich gespart würde, ist Eisler durchaus zuzutrauen; es gibt im Epilog ("Friedensfibel") der "Bilder aus der <Kriegsfibel>" einen ähnlich pessimistischen musikalischen Kommentar zu einem aufbauenden Text von Brecht. Im Vers "Und lernt das Lernen und verlernt es nie" macht Eisler den musikalischen Schnitt mitten im Wort "verlernt", sodass "lernt es nie" als musikalische Einheit – bzw. Einsicht des Musikers – erscheint, die dann vom (augmentierten) Echo der beiden Hörner am Schluss bestätigt wird (Notenbeispiel 2).

Wenn wir davon ausgehen, dass Eislers politische Lieder mehr sind als musikunterstützte Texte, dann könnten also Lieder auf Texte, deren politischer Gehalt obsolet und deren literarische Qualität fragwürdig ist, auch heute noch von Interesse sein – und zwar nicht bloss von historischem oder dokumentarischem. Bei klassischen Kunstliedern hat es sich ja längst eingebürgert, die ästhetische Qualität nicht in Abhängigkeit von der literarischen des Textes zu sehen – warum sollte es im Falle Eislers, dessen angewandte Musik sich gerade durch Selbständigkeit der musikalischen Dimension auszeichnet, anders sein? Die Probe aufs Exempel mache ich nicht mit einem jener Lieder Eislers, die kritisch die kapitalistische Realität reflektieren – sie dürften ihre Aktualität und Brauchbarkeit nicht so schnell verlieren. Das gilt übrigens nicht nur für die Songs aus der Weimarer Republik, sondern vielleicht mehr noch für die Exillieder, die mit ihrer Beschreibung des Fremdseins, der Illusionslosigkeit, aber auch des Genusses-trotz-allem auf heute verbreitete Gefühle treffen. Die Probe aufs Exempel mache ich mit zwei affirmativen Liedern, deren Funktionalität sich zweifellos erschöpft hat und an deren literarischer Minderwertigkeit ebenfalls keine Zweifel bestehen dürften: "Der Rote Wedding" und die Nationalhymne der DDR. (Nur nebenbei und um Missverständnisse zu vermeiden sei bemerkt, dass Eisler überwiegend Texte von hohem Rang vertont hat. Es genügt, die zahlreichen kongenialen Brecht-Vertonungen, zu denen auch proletarische Marschlieder wie das "Solidaritätslied" und das "Einheitsfrontlied"5 gehören, zu erwähnen.)

Erich Weinerts "Roter Wedding" von 1929 umreisst die sozialistische Perspektive mit den Worten: "Haltet die roten Reihen geschlossen, dann ist der Tag nicht mehr weit. Schon erglüht die rote Sonne, flammend am Horizont." Das mag als Beleg für die abgegriffene Metaphorik und den paramilitärischen Jargon6, mithin die politische und ästhetische Fragwürdigkeit des Textes, genügen. "Der rote Wedding" ist einer der wenigen Märsche von Eisler in Dur, entspricht insofern dem traditionellen Marsch bzw. dem konventionell-sozialistischen Charakter des Textes. Bleibt zu untersuchen, inwiefern Eislers Komposition darüber hinausgeht.

Dietrich Stern hat in einer Analyse des "Roten Wedding"7 darauf hingewiesen, dass Eisler hier nicht dem satztechnischen Klischee folgt, wonach möglichst jede Stufe der Melodie mit einem eigenen Akkord begleitet werden muss. Dadurch vermeidet Eisler die in Chorälen, aber auch in traditionellen Arbeiterliedern eingefahrenen harmonischen Wendungen wie z.B. ständige Zwischendominanten. Das Lied bekommt einen grösseren Atem, und es entsteht Raum für instrumentale Umspielungen, Raum auch für einen Gegenrhythmus zu den skandierten starken Taktteilen am Anfang (Fl. u. Ob. T. 2ff., siehe Notenbeispiel 3)8 und für ein (teilweise diminuiertes) "Internationale"-Zitat (Fl., Ob., Klar. u. Trpt. T. 5 und 9, Notenbeispiel 3). Die Tonika wird durch die Unterterz erweitert und dadurch in ihrem zentrumsetzenden Charakter geschwächt (Fag., Vcl. u. Kb. T. 2–4, Notenbeispiel 3). Eisler wählt statt des starken Schrittes zur Subdominante I-IV den schwachen I-II, wobei die II. Stufe ebenfalls durch die Unterterz erweitert ist und der Bass zusätzlich durch die obere Wechselnote in Schwung versetzt wird (T. 6–9, Notenbeispiel 3). Die darauffolgenden Dominant-Tonika-Schritte folgen insofern nicht der in diesem Genre üblichen Norm, als die Dominante durch einen Nonvorhalt erweitert ist, und zwar durch eine kleine None, die damit eine Molltrübung einbringt (Notenbeispiel 4). Ges statt das für B-Dur reguläre g findet sich auch in der Figur des Blechs T. 15 (Notenbeispiel 5). Im Refrain ist die Kadenzformel I-IV-V-I in I-V-IV-I umgedreht (Notenbeispiel 6). Der Subdominante ist breiter Raum gegeben: T. 24–27 stehen drei Takte Subdominante einem Takt Tonika gegenüber, wobei als Wechselakkord innerhalb der Subdominante (Es-Dur) wiederum deren Subdominante (As-Dur) eingesetzt ist (Notenbeispiel 7). Die im Vergleich zu V-I schwache, passive Akkordverbindung IV-I erscheint also ungewöhnlich oft. In der im 5/4-Takt9 stehenden Schlusskadenz ist die Subdominante ausgelassen, womit es auch hier nicht zur Normkadenz kommt (Notenbeispiel 8).

Dies alles (und einiges mehr) sind nicht bloss Finessen, die der ambitionierte Komponist dem anspruchslosen Genre beibringt. Die Vermeidung der Kadenzformel bzw. die Reduktion starker Akkordverbindungen bewirkt, dass die Sogwirkung der Harmonik vermindert ist. Gewöhnliche Märsche nehmen den Hörer von oben, der Melodie, und von unten, den Bässen, in eine Zange zwangsläufiger Schritte. Wenn Strawinskys Bearbeitung der US-Hymne als Verballhornung empfunden und deshalb während der Kriegszeit verboten würde, dann wohl nicht nur wegen der gelegentlich dissonanten Akkordfüllungen, sondern auch wegen des fast subversiven Unterbaus: weil Strawinsky statt kraftvoll-zwingender Bassbewegungen schleichende oder gar ruhende Bässe setzte. Eisler, der den Marschcharakter durchaus nicht negieren, sondern eher freisetzen will, lässt dagegen im "Roten Wedding" die Bässe tanzen.

Die Harmonik mit ihren grossen Flächen und schwachen Akkordverbindungen steht für Grosszügigkeit und Lockerheit. Vielfalt entsteht durch Gegenparte sei's rhythmischer, sei's melodischer Art. Die Musik symbolisiert damit Haltungen, Qualitäten, die über den beschränkten Text hinausgehen. Das Verhältnis ist nicht unähnlich jenem in Bach-Kantaten, deren Texte heute geradezu bizarr wirken, wenn man mit Theologie nicht vertraut ist, deren Musik aber nicht nur kompositionstechnisch, sondern auch affektiv immer noch zu faszinieren vermag. Vielleicht klingt Weinerts Text mit seinen roten Reihen, Sonnen und Fäusten, seiner Sturmkolonne und Rot Front, bald einmal ebenso exotisch und ist nur noch mit Hilfe eines Geschichtskurses zu dechiffrieren. Es ist Eislers Musik, welche über dieses verstaubte Arsenal hinausträgt und ein Stück sozialistischer Utopie aufbewahrt.

Gehe ich zu weit, wenn ich sage: auch die Trauer über deren Nichtverwirklichung? Auf die Moll-Eintrübungen im "Roten Wedding" wurde oben hingewiesen, auch auf die Tatsache, dass die meisten der Eisler-Kampflieder in Moll stehen. Eisler hielt es für bedeutungsvoller und drohender.10 Heute klingt es vielleicht weniger drohend als melancholisch. Das ist eine (Um-)Deutung, die Eisler nicht einmal Unrecht tut, wenn man sich etwa die Einleitung zum "Einheitsfrontlied" vergegenwärtigt mit seiner trotz Synkopierungen sanft-melancholischen Bewegung. Auch wenn Eisler als Dominante häufig den Nonakkord in Moll benutzt – ein klassisches musikalisches Symbol für Schmerz –, dann wohl nicht nur, weil dieser weniger abgenutzt ist als der Dominantseptakkord oder der Dur-Dreiklang, sondern der Bach-Kenner Eisler dürfte die Symbolik dieses Akkordes mitgedacht haben. Zu zahlreich sind die Fälle, wo Eisler klassische semantische Besetzungen oder Zitate als Untertext der Musik einsetzt, als dass man einen naiven Umgang mit solchen Mitteln unterstellen dürfte. Wofür das Schmerzsymbol bei Eisler selbst stand und wofür es uns heute in seiner Musik steht, das bleibt allerdings letztlich offen. Dass neu hören auch anders hören heissen kann, liegt an der relativen semantischen Unbestimmtheit von Musik Diesen "vertrackten Drang zur Abstraktheit und Vieldeutigkeit" hat Eisler selbst zwar mit den Worten Settembrinis aus Thomas Manns "Zauberberg" als "politisch verdächtig" qualifiziert und daraus gefolgert, Musik müsse "besonders konkret sein, da sie schon von Geburt aus eine Kunst ist, die abstrahiert"11. Dass diese Vieldeutigkeit ermöglicht, Musik aus den Bedingtheiten und Begrenztheiten des Entstehungszusammenhanges zu lösen, könnte indessen gerade für Eislers Musik von Gutem sein.

Auch die DDR-Hymne werden wir anders hören – sofern wir sie überhaupt noch hören –, wenn wir Eislers Goethe-Fragment von 1953 mitdenken, wo der Hymnen Anfang auf die Worte "Lass mich nicht so in Nacht, den Schmerzen, du Allerliebste, du, mein Mondgesicht" zitiert wird – wo also aus Weinerts roten Sonnen bzw. der farbneutralen Sonne von Johannes R. Bechers Hymnentext bereits ein Mondgesicht geworden ist (Notenbeispiel 9).

Die musikalische Analyse der Hymne wird zeigen, dass dieses Stück selbst Qualitäten aufweist, die über das in diesem Genre Übliche hinausgehen und die es als bewahrenswert erscheinen lassen, auch wenn die einst so zahlreichen Anlässe zu seiner Aufführung nicht mehr bestehen. Zunächst beweist Eisler auch und gerade hier seine Kunst, mit einfachsten Mitteln und innerhalb engster Grenzen eine Melodie zu komponieren, die sitzt. Sie beginnt mit kleinen Schritten und gewinnt allmählich Schwung und damit auch Raum: Die erste Phrase besteht aus einer Tonwiederholung und zwei Sekundschritten, und sie wird eine Stufe höher sequenziert; das Rahmenintervall dieser Phrase – die Terz – bildet sodann den Baustein, von dem die dritte Phrase ausgeht; die beiden Terzschritte umfassen eine Quinte, die dann folgerichtig in umgekehrter Richtung als Sprung erscheint, vielleicht nicht ganz zufällig auf das Wort "Zukunft" (Notenbeispiel 10). Dieser Prozess der Intervallerweiterung kann im Rahmen einer Hymnenmelodie nicht mehr weiter geführt werden (zwei Quinten ergäben eine None!), hingegen kann der Ambitus der Melodie insgesamt noch geweitet werden, was Eisler im folgenden Takt mit dem d tut. Im Nachsatz verzichtet Eisler auf den Quintsprung; der in diesem Zusammenhang extreme Schritt erscheint nur einmal und behält dadurch seine Kraft, kann so im Mittelteil – wiederum einmal, aber in umgekehrter Richtung – unverbraucht nochmals gesetzt werden (Notenbeispiel 11, T.4 nach Ziffer 2). Dafür erfährt der Ambitus eine erneute Erweiterung: der einzige in der Oktave noch fehlende Ton, das e, erscheint in der abschliessenden Phrase des Nachsatzes , die auf die Worte "einig Vaterland"12 nun eine Septime umfasst , ein Umfang, der in der ganzen Melodie (ausser in der hymnischen Variante am Schluss der dritten und letzten Strophe) nicht überschritten, ja nicht einmal mehr erreicht wird (Notenbeispiel 10).

Im marschartigen Mittelteil gewinnt Eisler neuen Schwung aus der Rhythmik: Die punktierten Rhythmen – bisher nur je einmal am Ende von Vorder- bzw. Nachsatz aufgetreten (Notenbeispiel 10) – rücken in den Vordergrund. Aktivierend wirkt insbesondere die Einführung eines Auftaktes, in dem der punktierte Rhythmus des vorangegangenen Teils diminuiert erscheint (Notenbeispiel 11, T. 1 u. 5 n. Z. 2). Der Wechsel von der auftaktigen Struktur des Mittelteils zur abtaktigen der Hymnen-Reprise erlaubt Eisler eine Verkürzung am Ende des Mittelteils – es "fehlt" ein Takt auf der Dominante als Pendant zu T.4/5 n. Z.2 (Notenbeispiel 11) –, was wiederum einen aktivierenden, den Trott vermeidenden Effekt hat13. Im Mittelteil erweitert Eisler den Ambitus der Melodie nach unten ins d' bzw. c'; dieser umfasst den Bereich c'-a' und hebt sich damit auch im Register ab vom ersten Teil, der von e'-d'' reicht.

Der Vordersatz der Reprise entspricht jenem des erstem Teils, während der Nachsatz völlig neu ist: Hatte dieser im ersten Teil eine Erweiterung des Ambitus gebracht, so nimmt Eisler am Schluss sowohl Ambitus wie Intervalle sukzessive zurück, sodass die letzte Phrase genau dieselben Töne und Schritte enthält wie die erste (Notenbeispiel 12). Bemerkenswert ferner, dass Eisler im Nachsatz die Auftaktigkeit des Mittelteils aufgreift (1 T. vor Z.3) und dann die Achtel-Auftakte zu Vierteln augmentiert (T.4 n. Z.3), so die Diminution der punktierten Viertel des ersten Teils zu den punktierten Achteln des Mittelteils umkehrend. Die Augmentation bewirkt natürlich eine Verbreiterung, die zusammen mit den erstmals sukzessiv eingesetzten halben Noten den Schluss unterstreicht.

So weit, so gut, sehr gut sogar. Dennoch ist es niemandem zu verargen, wenn er Eislers Hymne – bei aller technischen Meisterschaft – als akustisches Symbol der DDR nicht mehr hören mag. Da Hymnen sehr oft ohne Text gespielt werden, ist hier die Melodie selbst zum Bedeutungsträger geworden. Gerettet werden könnte das Stück durch jenes Element, das in den zahllosen bisherigen Aufführungen meistens weggelassen oder in den Hintergrund gedrängt wurde: die Kontrapunktik. Sie ist Gegenelement im emphatischen Sinne: sie sprengt die Begrenzungen, welche durch den Hymnencharakter den Melodieführung zwingend vorgegeben sind. Der Kontrapunkt zum Nachsatz des ersten Teils setzt der Skansion der Melodie einen synkopischen Achtel am Ende jedes Zweitakters entgegen (siehe die identischen ersten vier Takte der Reprise, Notenbeispiel 12, Viol.). Jener zum Mittelteil der 1. Strophe (Notenbeispiel 11, Viol.) bewegt sich vorwiegend in Quart- und Quintsprüngen, in einem Ambitus von über zwei Oktaven, den punktierten Achtel-Auftakt multiplizierend und mit der Achtel-Triole ein rhythmisches Element einführend (bzw. vom Schlusstakt der Einleitung übernehmend), das in der Melodie nicht vorkommt und das im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen wird. Der Kontrapunkt zur Reprise der ersten Strophe (Notenbeispiel 12, Viol.) schliesslich greift auf den ersten Kontrapunkt zurück und treibt ihn noch eine Oktave höher bis ins f''', erreicht also einen Ambitus von beinahe drei Oktaven.

Die Harmonisierung der Hymne ist – ähnlich der des "Roten Wedding" – relativ grossflächig: es wird also auch hier nicht jede Stufe der Melodie mit einem eigenen Akkord begleitet. Das erlaubt es Eisler, auch in den Bässen eine Synkopierung einzuführen (Notenbeispiel 12, Vc. u. Kb.). Die Trägheit des Basses macht sich Eisler in der zweiten Strophe zunutze und hebt sie zugleich auf, indem er ihn in repetierte Achtel auflöst, wodurch sich Trommelbässe ergeben, wie sie von der Mannheimer Schule des 18. Jahrhunderts eingeführt wurden (Notenbeispiel 13, Vc. u. Kb.). Sie sind ein weiteres Gegengift zur Hymnenschwere. Die Kontrapunkte werden in der zweiten Strophe von den Holzbläsern übernommen. Sie knüpfen an Elemente des Kontrapunkts der ersten Strophe an, namentlich die Achteltriolen und die Synkopen, treiben diese aber weiter: So ergeben sich durchgehende Synkopierungen sowie Triolenketten über je zwei Takte hinweg (Notenbeispiel 13, Fl.), was zusammen mit den Trommelbässen der Hymne eine für dieses Genre (von südländischen Exemplaren einmal abgesehen) unübliche Leichtigkeit verleiht. Bemerkenswert die Umkehrung der kontrapunktischen Figuren im Nachsatz der ersten Periode (Notenbeispiel 13. Z.4). Der Kontrapunkt der Reprise knüpft an diese Umkehrung an und lässt im Nachsatz den Kontrapunkt allmählich in die Hymnenmelodie einmünden – ein Verfahren, das ansatzweise schon in der ersten Strophe zu beobachten ist (Notenbeispiel 12, Z.3). Der Mittelteil der zweiten Strophe ist identisch mit jenem der ersten und strukturell auch mit jenem der dritten (der Marschrhythmus wird dort durch den erstmaligen Einsatz des gesamten Blechbläser- und Schlagzeugapparats unterstrichen). Dies erscheint im Hinblick auf die Proportionen der Teile als sinnvoll, umfasst der Mittelteil doch bloss neun Takte gegenüber den zweimal sechzehn Takten der Aussenteile: Als beinahe flashartiger Einschub kann er unvariiert bleiben.

Haben die Kontrapunkte in der zweiten Strophe eine beträchtliche Komplexität erreicht, so nimmt Eisler diese in der dritten Strophe wieder zurück, da es ja hier um eine Apotheose nicht der Kunstfertigkeit, sondern des Hymnus geht. Übrig bleibt einzig die Triolenbewegung, diese nun aber durchgehend und nicht mehr in gerader Richtung entweder auf- oder abwärts, sondern mit aufwärts gerichteten Schritten in einer insgesamt abwärts tendierenden Bewegung und umgekehrt. Dadurch gewinnt diese Stimme unerhörte Beweglichkeit und Lebendigkeit (man beachte auch die Akzente auf unbetontem Taktteil) und versetzt die Hymne erst recht in Fahrt (Notenbeispiel 14). Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das von Eisler für diesen Kontrapunkt der Violinen geforderte dreifache Forte einst genommen wird. In der m.W. einzigen Schallplattenaufnahme der Hymne in der Version für gemischten Chor und Orchester14 werden nicht nur die Gegenstimmen bis zur Unhörbarkeit unterspielt, sondern es wird überdies eine Fassung verwendet, in welcher die Geigenfiguren der dritten Strophe entsetzlich banalisiert sind und die Reprise der zweiten Strophe durch die der ersten ersetzt wird, wodurch die genreunübliche – möglicherweise suspekte – Leichtigkeit auf ein Minimum reduziert ist und die Konstruktion des Ganzen aus den Fugen gerät15. Dass in einer solchen Interpretation das Tempo mehr jener feierlichen Gemächlichkeit entspricht, die man von Blaskapellen bei Staats- und Sportzeremonien gewohnt ist, als dem von Eisler geforderten "poco mosso (nicht schleppen)", verwundert dann auch nicht mehr.

Die Hymne ist als Kunstwerk also erst noch zu entdecken, und damit ist nicht bloss Eislers handwerkliche Meisterschaft gemeint – diese allein ergäbe nicht mehr als Kunstgewerbe –, sondern seine Fähigkeit, den Charakter der Hymne sowohl zu realisieren als zu transzendieren. Wenn keine politischen Scheuklap-pen den Blick mehr trüben und keine unerwünschten Anklänge die Ohren ver-stopfen, wird die Musik der Hymne – den Text kann man getrost der Furie des Verschwindens überlassen – vielleicht auch den konkreten geschichtlichen Zusammenhang, dem sie ihre Entstehung verdankt, transzendieren.

1Kolloquium zu Eislers 90. Geburtstag an der Akademie der Künste der DDR, Berlin 4./5. Juli 1988
2Theodor W. Adorno / Hanns Eisler, Komposition für den Film, Leipzig 1977, S. 47
3Károly Csipák, Wie soll man Hanns Eislers Lieder singen?, in: Dissonanz 26 [1990], S. 21
4ebenda
5Eisler selbst hielt diese beiden Lieder für die "haltbarsten dieses Genres", dem auch "Der rote Wedding" angehört. "Das ist auch nicht mehr – von niemandem – überboten worden. Auch von mir nicht, von Brecht auch nicht." (Hanns Eisler, Gespräche mit Hans Bunge, Leipzig 1975, S. 93)
6Weinert gerät damit stellenweise in fatale Nähe zum Horst Wessel-Lied, dessen Refrain "SA marschiert, die Reihen fest geschlossen" von Brecht und Eisler im "Kälbermarsch" parodiert wurde ("Der Metzger ruft, Die Augen fest geschlossen, das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.")
7in: Hanns Eisler, Argument-Sonderband 5, Berlin 1975, S. 161ff.
8Die analytischen Betrachtungen beruhen auf der in: Hanns Eisler, Lieder und Kanteten, Band V, Breitkopf & Härtel Leipzig, abgedruckten Fassung für Gesang und Orchester (mit beigefügtem Klavierauszug) von 1958. Das Lied selbst entstand wie der Text im Jahre 1929 (in Lieder und Kantaten ist –vermutlich irrtümlich – 1928 als Entstehungsjahr angegeben).
9Dieser Stolperschritt ist in einer sowjetischen Ausgabe von 1962 eliminiert, der 5/4 also zu einem 4/4-Takt begradigt worden. Das lässt, folgt man Dietrich Sterns Betrachtung dieser Stelle, auf Humorlosigkeit der dortigen Herausgeber schliessen: "Dass das zweite <Rot Front> früher erwartet wird, als es tatsächlich eintrifft, lässt manchen Sänger falsch einsetzen und gibt Anlass zum Lachen. Sollte also jemand im Verlaufe des Liedes entgegen Eislers Sicherheitsmassnahmen in eine allzu bieder-ernste Stimmung geraten sein, so wird er mit diesem Schluss wieder auf den Boden der Vernunft geholt."
10Sergej Tretjakow, Hanns Eisler, in: Sinn und Form, Sonderheft Hanns Eitler, Berlin 1964, S. 127
11Nathan Notowicz, Wir reden hier nicht von Napoleon. Wir reden von Ihnen! Gespräche mit Hanns Eisler und Gerhart Eisler, Berlin 1971, S. 55
12Ironie der Geschichte, dass das "Deutschland, einig Vaterland", welches die Hymne beschwört, just dadurch realisiert wurde, dass der Staat, dem sie galt, abgeschafft wurde.
13Eine ähnliche Verkürzung findet sich im "Solidaritätslied" mit einem 2/4-Takt (T. 6) zwischen 4/4-Takten. Wahrscheinlich um einen solchen – für die Auftraggeber anstössigen – Taktwechsel zu vermeiden, hat Eisler die DDR-Hymne entgegen dem faktischen 4/4-Metrum durchgehend in 2/4-Takten notiert.
14Rundfunk-Solistenvereinigung und Rundfunkchor Berlin, Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin, Dirigent: Helmut Koch, NOVA 8 85 021. Diese Aufnahme von 1968 ist 1996 auf einer CD des Labels Berlin Classics reediert worden (0092322 Bc).
15Unsere Analyse beruht auf der Erstausgabe von 1949, Peters Leipzig.

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