Gegen den "Musikstil der guten Gesellschaft": Hanns Eislers Kampf für eine neue Musikkultur

Hanns Eisler (1898-1962) war von 1919 bis 1923 Schüler Arnold Schönbergs, und er hat nie geleugnet, in seinem ganzen musikalischen Denken von Schönberg geprägt worden zu sein. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, seine Kritik am Neoklassizismus als eine Kritik von den Positionen der Wiener Schule her einzustufen. Zwar gibt es in der musikimmanenten Polemik gegen den Neoklassizismus durchaus Berührungspunkte: Die von Eisler glossierte "Altmeisterlichkeit durch eine Art dissonanten Schulkontrapunkt" hat Schönberg selbst in der "Schlussfuge" der "Drei Satiren" op. 28 (Nr.3: "Der neue Klassizismus") musikalisch parodiert. Aber zum einen geht Eisler über solche musikimmanente Kritik weit hinaus; und zum anderen ist sein Verhältnis zum Neoklassizismus ambivalenter, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Auf "ideologische Schwächen" des Neoklassizismus zielte Eislers Kritik nicht erst im Jahre 1948, als der hier zur Rede stehende Text entstand (Hanns Eisler: "Gesellschaftliche Grundfragen der modernen Musik", in: "Aufbau" 4/7, 1948; abgedruckt in: Hanns Eisler, "Musik und Politik: Schriften 1948-1962", textkritische Ausgabe von Günter Mayer, Leipzig 1982, S. 13-25; hier S. 20-21). Bereits 1928 polemisierte er gegen "die neue Religiosität in der Musik", die er als Symptom der sozialen Krisen des Imperialismus deutete (siehe Hanns Eisler, "Musik und Politik: Schriften 1924-1948", hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1973, S. 61-65). Neben Strawinsky warf er namentlich Honegger, Milhaud und Hindemith vor, fromm und zahm geworden zu sein. Eisler schrieb dies in einem Artikel in der KPD-Zeitung "Die rote Fahne", für die er in diesen Jahren als Musikberichterstatter in Berlin tätig war. Obwohl jüngst Recherchen von Günter Mayer ergeben haben, dass Eisler weder Mitglied der KPD noch später der SED war, ist der kommunistische Kontext seiner Kritik unverkennbar. Das heisst aber auch: Der Neoklassizismus wird nicht von der Position des einsamen avantgardistischen Künstlers her, dessen Prototyp Schönberg war, angegriffen. Vielmehr war für Eisler die Musik "seit jeher eine ausgesprochene Gemeinschaftskunst" und ihre aktuelle Krise just in ihrer Isolierung begründet: "Eine Kunst, die ihre Gemeinschaft verliert, verliert sich selbst", schrieb er 1927 in einem Artikel zu Beethovens 100. Todestag ("Ueber moderne Musik", a.a.O., S. 31-33; hier S. 33). Die Hochblüte der Musik als Gemeinschaftskunst sah er im 16., 17. und 18. Jahrhundert: "Damals diente die Musik, als wichtiger Teil des Gottesdienstes, wirklich einer Gemeinde. Die Krise des Feudalismus und schliesslich die Revolution brachten auch in der Musik einen ungeheuren Umschwung, und im 19. Jahrhundert, zur Zeit Beethovens, wurde die Musik immer mehr der Ausdruck der Privatgefühle des einzelnen." (Ebd., S. 31-32) Eisler verwirft also keineswegs pauschal alle religiöse Musik, sondern unterscheidet historisch-dialektisch zwischen der Kunstausübung früherer Jahrhunderte und dem Neuklerikalismus seiner Zeitgenossen. "Strawinsky folgt einer Mode und hat den Zeitgeist richtig verstanden, während die Meister des 17. Jahrhunderts für den Tagesbedarf der Kirche geschrieben haben." ("Die neue Religiosität in der Musik", a.a.O., S. 63)

Obwohl er 1928 Strawinskys "Oedipus rex" unter dem Titel "Die Flucht in die Vorvergangenheit" als "den Gipfel einer geradezu widernatürlichen Schmockerei" attackierte, vermochte er – auch hier ganz dialektischer Denker – selbst diesem Werk einen positiven Aspekt abzugewinnen: "Die Musik strebt, im Gegensatz zu der sehr komplizierten modernen Musik, wieder zu einer gewissen Einfachheit zurück, und das wäre allerdings schon etwas Positives." (Siehe Hanns Eisler, "Musik und Politik: Schriften, Addenda", hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1983, S. 25-27, hier S. 25-26) Mit der "eher komplizierten modernen Musik" ist natürlich in erster Linie Schönberg gemeint, von dessen Aesthetik sich Eisler im Zuge seiner Hinwendung zu politisch engagierter Musik Mitte der zwanziger Jahre distanziert hatte. Auch Eisler strebte eine einfachere neue Musik an, auch ihm ging es um eine Wiederherstellung der Gemeinschaftsfunktion von Musik. Seine Kritik richtete sich gegen die Regression, die sich bei den Neoklassizisten mit diesen Zielen verband: musikalisch gegen Stilkopien klassischer Musik, ideologisch gegen die Wiederbelebung einer spätestens im 19. Jahrhundert obsolet gewordenen Religiosität.

Für die KPD (und Eisler) stand in den zwanziger und frühen dreissiger Jahren die revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Tagesordnung. Erst dadurch würden der Musik eine neue Funktion und auch neue Methoden zuwachsen: "Die einzige Klasse, die neue Methoden braucht, für die eine Funktionsveränderung der Musik eine Lebensnotwendigkeit bedeutet, ist das revolutionäre Proletariat", schrieb Eisler 1931 im Aufsatz "Die Erbauer einer neuen Musikkultur" (siehe Hanns Eisler, "Musik und Politik: Schriften 1924-1948", S. 140-167; hier S. 156). Er selbst engagierte sich in seinen Berliner Jahren (1925-1933) auf vielfältigste Weise für den Kampf dieser Klasse: als Komponist, Pianist, Dirigent, Organisator, Lehrer und Autor. Seine Kritik an "Oedipus rex" mündet denn auch in eine Erklärung der eigenen Absichten: "Es ist die höchste Zeit, dass sich die wenigen revolutionären und linksgerichteten Komponisten zusammenschliessen, um sich einmal über das Ziel und den Weg einer modernen, revolutionären Musik klar zu werden. Das erste musikalisch neue und zwingende revolutionäre Musikwerk, das auch technisch mit grösster Meisterschaft gearbeitet sein muss, wird diesen ganzen snobistischen Musikplunder über den Haufen werfen und stilbildend, wegweisend für die wahrhaft neue Musik sein." ("Die Flucht in die Vorvergangenheit: Oedipus Rex", a.a.O., S. 26.) Hauptsächlich mit der Musik zu den Brecht-Lehrstücken "Die Mutter" und "Die Massnahme", aber auch mit vielen Liedern und Filmmusiken steuerte Eisler selbst die wohl gewichtigsten Beiträge zur politisch engagierten Musik der Weimarer Republik bei. Stilbildend konnten diese Werke allerdings schon deswegen nicht werden, weil die Naziherrschaft ab 1933 solcher Praxis ein gewaltsames Ende setzte.

Nach dem Exil in den USA, aus denen er 1948 als eines der ersten Opfer der antikommunistischen Hexenjagd ausgewiesen wurde, akzentuiert Eisler die Kritik am Neoklassizismus etwas anders: Neben der Nähe zum Neokatholizismus sieht er nun zusätzlich "eine verdammte Aehnlichkeit mit den Bankpalästen der Wall Street" und "Frechheit und Kälte gegen den kleinen Mann". Im Land des unbegrenzten Kapitalismus hatte er Erfahrungen gemacht, z.B. als Lieferant von Musiken für Hollywood-Filme, die ihn zu einem nicht weniger scharfen Kritiker der Kulturindustrie werden liessen als Adorno. Aber anders als dieser blieb Eisler nicht bei der Kritik stehen, sondern leitete daraus die Notwendigkeit einer alternativen Praxis ab. Die hier zur Rede stehende Textpassage stammt aus einem Referat, das Eisler auf dem II. Internationalen Kongress der Komponisten und Musikkritiker vom 20.-29. Mai 1948 in Prag hielt; auf diesem Kongress wurde jenes Manifest verabschiedet, gegen welches Adorno im Aufsatz "Die gegängelte Musik" heftig polemisierte (siehe Theodor W. Adorno, "Dissonanzen: Musik in der verwalteten Welt", Göttingen 1956, S.46-61). Das Manifest gilt gemeinhin als Proklamation Schdanowscher Musikpolitik (A.A. Schdanow war als Mitglied des Politbüros unter Stalin für Kultur zuständig), was in Anbetracht der realen Machtverhältnisse im Osteuropa der Nachkriegszeit zwar berechtigt sein mag, nicht aber im Hinblick auf jene Künstler, welche die Chance der gesellschaftlichen Erneuerung für eine Demokratisierung der Musikkultur nutzen wollten (bezeichnend, dass die vom Manifest geforderte "Ueberwindung des Musikanalphabetismus" und "musikalische Erziehung der breiten Massen" von Adorno nicht einmal erwähnt wird). Der Entwurf des Manifests stammt von niemand anderem als Eisler und zeigt bis in die Formulierungen hinein den Versuch, die Anliegen der progressiven Künstler mit jenen der kommunistischen Parteien zusammenzubringen: "[...] erstrebenswert wäre ein Stil, der höchste Kunstfertigkeit, Originalität und hohe Qualität mit der grössten Volkstümlichkeit verbinden kann." ("Manifest I", in: Hanns Eisler, "Musik und Politik: Schriften 1948-1962", hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1982, S. 26-28; hier S. 27) In Eislers Referat taucht abschliessend wiederum der schon in den zwanziger Jahren exponierte Gedanke der Gemeinschaftskunst auf (allerdings nicht in dieser durch den Nazibegriff der "Volksgemeinschaft" diskreditierten Vokabel): "Nach all diesen Exzessen und Experimenten scheinen die Aufgaben der Musiker in unserer Zeit vielleicht darin zu liegen, in einer zuerst vielleicht bescheidenen Weise in eine höhere Form der Gesellschaft zurückzuführen, vom Privaten zum Allgemeinen. Und diese höhere Form ist eine Gesellschaft von freien Menschen, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben ist."

Schon in den dreissiger Jahren waren für Eisler sowohl Strawinsky als auch Schönberg Vertreter des "linken Flügels der bürgerlichen Musikbewegung", den er als "Avantgarde des Untergangs der bürgerlichen Musik" bezeichnete ("Die Erbauer einer neuen Musikkultur", a.a.O., S. 154). Auch 1948 sieht er die beiden – anders als Adorno in seiner "Philosophie der neuen Musik" – weniger als Kontrahenten denn als Anhänger der gleichen Kunstillusion. Einem Komponisten, der mit seiner Musik dem Sozialismus dienen wollte, mussten in der Tat beide Schulen als "identisch, verschieden nur durch Nuancen" erscheinen. Dass Eislers Suche nach einer festen Bindung im Sozialismus der DDR sich schliesslich als nicht minder vergeblich erwies wie jene Schönbergs im Zwölftonsystem oder Strawinskys in der "Stilnachahmung", ist eine Einsicht, die Post festum gratis zu haben ist. Zu fragen wäre heute eher, ob die politische Illusion seinem künstlerischen Schaffen förderlich war oder nicht. Sicher haben die selbstauferlegte Priorität angewandter (d.h. textgebundener bzw. für Theater und Film bestimmter Musik zumindest genremässig und quantitativ sein spätes Oeuvre stark eingeschränkt. Andererseits wird man eines Tages, wenn keine politischen und stilistischen Scheuklappen den Blick mehr einengen, vielleicht sehen, dass die von Eisler anvisierte Verbindung von "höchster Kunstfertigkeit" und "grösster Volkstümlichkeit" einige kleine Meisterwerke hervorgebracht hat – die DDR-Hymne nicht ausgenommen. Und dem Menschen Eisler wird man attestieren, dass er auch unter Verhältnissen, in denen dies nicht ungefährlich war, seiner dialektischen Einschätzung Schönbergs und Strawinskys treu geblieben ist und den "linken Flügel der bürgerlichen Musik" gegen die bornierte Kritik stalinistischer Provenienz verteidigt hat.

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