Das Hollywooder Liederbuch von Hanns Eisler
Eine kritische Diskographie der Gesamt- und Teilaufnahmen

Kein anderer Liedsänger hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart stilbildend gewirkt wie Dietrich Fischer-Dieskau. Mit seinen psychologisierenden Ausdeutungen, die oft in geradezu manieristischer Weise einzelne Wörter bedeutungsvoll artikulieren, vermochte er ein großes Publikum in seinen Bann zu ziehen und viele Kollegen zur Nachahmung zu animieren. Als er sich in den 1980er Jahren dem Schaffen Hanns Eislers zuwandte, schien der Widerspruch zur Ästhetik des Komponisten, der sich über solch einfühlendes Singen stets mokiert und für seine Lieder eine ganz andere Darstellungsweise verlangt hatte,1 unvermeidlich. Wenn man nun die Aufnahmen Fischer-Dieskaus von Exil-Liedern Eislers 2 hört, stellt man mit einigem Erstaunen fest, daß der Sänger sich dafür einen ganz besonderen Interpretationsstil zurecht gelegt hat, der von seinem eigenen einfühlenden Singen ebenso weit entfernt ist wie von Eislerscher „Freundlichkeit“. Zwar gibt es auch hier einige Lieder, die Fischer-Dieskau auf seine bekannte Weise interpretiert, etwa wenn er im Hölderlin-Fragment «An die Hoffnung» das Wort „kalt“ mit schneidender Schärfe artikuliert, bei „stille“ still wird und das „schaudernde Herz“ mit bebender Stimme veranschaulicht. Doch das ist hier die Ausnahme. Die meisten Lieder geht Fischer-Dieskau in einer Art Bänkelsänger-Manier an: er verschleift die Tonhöhen mit Portamenti, nimmt es mit den Zieltönen der vokalen Aufschwünge nicht immer genau, und verfällt gelegentlich in einen ungepflegten Sprechgesang. Erstaunlicherweise appliziert er diese Vortragsweise nicht nur jenen Brecht-Liedern wie etwa den Fünf Hollywood-Elegien, die ihres satirischen Gehaltes wegen dafür sich anzubieten scheinen. Nein, auch das zweite und dritte der Hölderlin-Fragmente geht Fischer-Dieskau in solch hemdsärmeliger Weise an und vergröbert diese subtilen Gebilde in beinahe schon grotesker Weise.
Was er sich dabei gedacht hat, entnehmen wir einem Gespräch, das Eleonore Büning mit dem Sänger geführt hat.3 Das Hollywooder Liederbuch sei „die Arbeit eines sich bewußt als Dilettant gerierenden Professionellen“, alles klinge „zu bewußt dilettantisch“, lesen wir da, und stellen fest, daß mit dieser Charakterisierung der Sänger eher seinen eigenen Vortragsstil trifft als die Kompositionen. Von Eisler weiß Fischer-Dieskau nicht viel mehr als daß dieser „Musikfunktionär und Schöpfer der ostdeutschen Nationalhymne“ war, was ähnlich ungenau ist wie die Aussage, Eisler habe als Schönberg- und Webern-Schüler begonnen. Er mißt dann aber das Eislersche Liedschaffen nicht etwa an jenem der Wiener Schule, sondern hält ihm zwei im Dritten Reich hoch geschätzte Komponisten und Vertreter einer entsprechend reaktionären Ästhetik entgegen: Strauss und Pfitzner – mit der Begründung: „Zum Maßstab sollte man schließlich Komponisten nehmen, die wirklich etwas gekonnt haben.“ So sind Fischer-Dieskaus Eisler-Aufnahmen ein Dokument der Geringschätzung, ein „Fehlgriff“, um das Wort zu verwenden, mit dem er das Hollywooder Liederbuch „nach häufiger Wiedergabe“ qualifizierte. Der Fehlgriff eines berühmten Sängers, der am Ende seiner Karriere auf die Suche nach unentdeckten Winkeln des Liedrepertoires geht.

Ganz anders verhält es sich bei Matthias Goerne. Er hat das Hollywooder Liederbuch schon früh zu einem Zentrum seines Repertoires gemacht und es im Gegensatz zu Fischer-Dieskau4 integral auf CD 5 eingespielt. Daß er Eislers Lieder nicht ernst nehmen würde, kann man ihm nicht vorwerfen, obwohl ihm dessen Ästhetik ebenso fremd ist. Er scheint beweisen zu wollen, daß in den Liedern des Hollywooder Liederbuch ebenso viel Seelentiefe zu finden ist wie in den großen Werken der deutschen Romantik. Dafür strapaziert er diese oft lakonisch kurzen Gebilde bis an die Grenze des Zerbrechens, etwa wenn er «An den Selbstmord» so langsam nimmt, daß es jeweils gegen 10 Sekunden dauert, bis die Harmonie wechselt. Daß auf diese Weise der einzelne Akkord sich verselbständigt und das Spannungsgefälle der kadenzierenden Harmonik sich verflacht, nimmt Goerne nicht nur in Kauf, sondern scheint es zu beabsichtigen, denn er gestaltet auch seinen Gesangspart durchwegs flach, bleibt auch in den Aufschwüngen der Kantilene im Pianissimo, um dann das Fortissimo auf das Wort „fort“ (im Satz: „Denn angesichts dieses Elends werfen die Menschen in einem Augenblick ihr unerträgliches Leben fort.“) um so überraschender eintreten lassen zu können. Das ist gewiß sehr effektvoll, aber weder vom Tempo, das mit Andante molto und nicht Adagio molto angegeben ist, noch von der Dynamik her im Sinne des Komponisten: der Aufschwung T. 2/3 ist mit einer cresc.-decr.-Gabel versehen, auf dem Höhepunkt T. 18 hat das Klavier zwar fortissimo zu spielen, in der Gesangsstimme dagegen steht eine cresc.-Gabel, die Goerne dem Überraschungseffekt opfert, da nach dem Kraftakt auf den Taktbeginn eine Steigerung gar nicht mehr möglich ist. Von der mezza voce, die Goerne hier einsetzt, macht er in vielen Liedern Gebrauch, allzu vielen, denn nicht nur nutzt sich dieses Mittel relativ schnell ab, und es wird gewöhnlich, was außergewöhnlich sein müßte, sondern es wird ein Grundgestus des geheimnisvollen Hauchens, der bedeutungsvollen Verschwiegenheit erzeugt, der zu diesen Liedern ebenso wenig paßt wie Fischer-Dieskaus forsches Deklamieren. Für das Hollywooder Liederbuch gilt sinngemäß, was Eisler im Vorwort zu den Ernsten Gesängen geschrieben hat: „Der Sänger möge sich bemühen, durchweg freundlich, höflich und leicht zu singen. Es kommt nicht auf sein Innenleben an, sondern er möge sich bemühen, den Hörern die Inhalte eher zu referieren als auszudrücken. Dabei muß künstliche Kälte, falsche Objektivität, Ausdruckslosigkeit vermieden werden, denn auf den Sänger kommt es schließlich an.“ Die Leichtigkeit ist wesentlich eine Frage des Tempos, und dieses ist bei Goerne häufig so sehr gedrosselt, daß allein schon deswegen Bedeutungsschwere statt Leichtigkeit sich einstellt. «An den kleinen Radioapparat» wird so zur einer Studie über die Zerbrechlichkeit des Lebens, während es im Text nur um die Zerbrechlichkeit der Lampen des Radioapparats geht. Auf der Suche nach dem Tiefsinn wird Goerne immer wieder derart prätentiös, daß das Lächerliche nicht weit weg ist. Habitués von Liederabenden mögen das als Hohe Kunst der Lied-Gestaltung wahrnehmen, zumal Goerne und sein Begleiter Eric Schneider über durchaus beeindruckende Mittel und Fähigkeiten verfügen. Vermutlich hätte Eisler jedoch diese Artifizialität den „Dummheiten aller Art“ zugerechnet, die ein guter Sänger zu vermeiden hat: „Sentimentalität, Bombast, Pathos“.6

Neben Goerne ist Wolfgang Holzmair der Einzige, der eine Gesamtaufnahme des Hollywooder Liederbuchs vorgelegt hat (sie enthält sogar ein Lied mehr als die CD von Goerne, der das Rimbaud-Gedicht nicht einbezogen hat). Holzmair ist zwar auch ein Bariton, aber seine Stimme ist viel heller, fast tenoral gefärbt, und hat von Natur aus eine gewisse „Freundlichkeit“, auch wenn ein schnelles Vibrato manchmal unangenehm auffällt. Seine sympathisch unaufdringliche Art des Singens wird dem tagebuchartigen Charakter des Hollywooder Liederbuch weit mehr gerecht als Goernes artifizielles Herangehen. Auf die Länge stellt sich allerdings eine gewisse Monotonie ein, woran der unprofilierte Klavierpart, den Peter Stamm beisteuert, keinen geringen Anteil hat (überdies unterlaufen dem Pianisten mehrere Lesefehler, die offenbar keinem der Beteiligten an dieser Studioproduktion aufgefallen sind).7
Nun ist ja das Hollywooder Liederbuch kein Zyklus, sondern eine Sammlung oder vielmehr eine vom Komponisten beabsichtige Sammlung, die erst post mortem als solche realisiert worden ist.8 Eine Dramaturgie wie in den Schubert-Zyklen oder gar Verknüpfungen wie bei Schumann gibt es hier nicht, und sie ist auch mit einer ausgeklügelten, von der Chronologie abweichenden Reihenfolge, wie Holzmair sie präsentiert, nicht hinzukriegen. Insofern ist die Ermüdung, die sich beim Hören dieser Gesamtaufnahme einstellt, nicht nur den etwas uninspirierten Interpreten mit ihren vorwiegend gemächlichen Tempi zuzuschreiben. Zwar brauchen Holzmair und Stamm für die 46 Lieder, die auch auf der CD von Goerne und Schneider aufgenommen sind, etwa 4½ Minuten weniger als diese; das liegt aber hauptsächlich daran, daß sie auf Exzesse der Langsamkeit (wie am Beispiel «Über den Selbstmord» beschrieben) verzichten. Den Fünf Hollywood-Elegien fehlt nicht zuletzt wegen der gemütlichen bis gedehnten Tempi der Biß, und das «Sprengen des Gartens» wird fast unvermeidlich bieder, wenn das Tempo derart behäbig ist (hier ist Holzmair sogar langsamer als Goerne). Holzmair schafft es dann mit gleichförmigem Gesang, der die hemiolische Hervorhebung von „Unkraut“ ebenso unterschlägt wie den Akzent auf „Durst“, daß man ermattet wie das Strauchwerk im Gedicht.

Zum Glück gibt es die Aufnahmen mit Irmgard Arnold, die beweisen, daß solche Biederkeit einzig und allein dem Mißverständnis der Interpreten zuzuschreiben ist. Sie hat unter Anleitung von Eisler zahlreiche seiner Werke, darunter auch Teile des Hollywooder Liederbuchs, einstudiert, und genoß große Wertschätzung seitens des Komponisten. Ihre Interpretationen dürfen daher als authentisch gelten, und es ist nur verwunderlich, daß heutige Interpreten so selten von dieser Quelle Gebrauch machen. Um beim «Sprengen des Gartens» zu bleiben: Irmgard Arnold und ihr Klavierbegleiter André Asriel (der auch den singenden Eisler, u.a. in eben diesem Lied, begleitet hat) nehmen die Viertel=ca. 150, wodurch sich ein ganztaktiges Metrum in diesem ¾-Viertel-Takt ergibt, was durchaus der Harmonik entspricht. Bei Holzmair ist das Tempo Viertel=ca. 120, der ganze Takt also ca. 40, was gerade an der Grenze dessen ist, was noch als metrische Einheit wahrgenommen werden kann. Es kommt aber nicht nur auf das Tempo an; Irmgard Arnold setzt auch die nötigen Akzente, und vermeidet damit, daß die Grundhaltung der Freundlichkeit (die in diesem Lied gewissermaßen poetisch expliziert wird) in Betulichkeit kippt. Sie beherrscht die Kunst der minimalen Differenzierungen: ein kleines Zurückhalten des Tempos in T. 13, um dem Harmoniewechsel im Viertelrhythmus, der hier ausnahmsweise zu beobachten ist, Raum zu geben, und die Modulation auf die Dominante von H zu unterstreichen, ohne gleich ein Ausrufezeichen zu setzen; eine Belebung in der letzten Zeile auf die Worte „erfrische du“, die der Pianist mit einem etwas schnelleren Tempo im Nachspiel weiterführt.
Im Übrigen besteht das „Geheimnis“ der Arnold im Wesentlichen darin, daß sie darauf vertraut, daß das richtige Singen dessen, was komponiert ist, den richtigen Gestus produziert. Ein gutes Beispiel dafür ist «Ostersonntag», wo durch Überschreiten des normalen Stimmumfangs (der Ambitus bewegt sich zwischen H und es1, schlägt aber auf die Anfänge der T. 17–19 zum ges1 bzw. g1 aus) ein angestrengter Gestus hergestellt wird, der die Bedrückung durch den Krieg ausdrückt – wenn man denn nicht, wie Goerne, dem Komponisten ins Handwerk pfuscht und das Lied einen Ganzton nach unten transponiert, so daß auch diese Stelle sich schön und bequem singen läßt. Etwas überspitzt gesagt: Gute Lieder brauchen keine Gestaltung, weil sie bereits eine Gestalt haben, die lediglich wiedergegeben zu werden braucht. Dafür braucht es gute musikalische Phrasierung plus deutliche Wortartikulation – das Einfache, das schwer zu machen ist. Das gelingt Irmgard Arnold scheinbar mühelos, während bei vielen andern Sängerinnen und Sänger die Wortartikulation auf Kosten der musikalischen Phrase geht oder umgekehrt bei schön ausgesungenen Kantilenen die Verständlichkeit leidet.

Irmgard Arnold am nächsten kommt Roswitha Trexler, nicht nur weil sie eine ähnlich leichte, soubrettenhafte Sopranstimme hat. Wie Arnold, die unter Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin tätig war, hat Trexler in der DDR gewirkt, und bereits in den 1970er Jahren hat sie große Teile des Hollywooder Liederbuchs für die umfangreiche Eisler-Serie des Nova-Labels des VEB Deutsche Schallplatten aufgenommen. Diese Aufnahmen sind nach dem Zusammenbruch der DDR auf dem Label Berlin Classics als CDs reediert worden (wie auch die historischen Aufnahmen mit Arnold und etliche andere LPs aus der Nova-Reihe) und geben auch heute noch beachtenswerte Interpretationen dieser Lieder. «Über den Selbstmord» trägt Roswitha Trexler mit jener expressiven Schlichtheit vor, die Eisler bei der scheinbar paradoxen Aufforderung an den Sänger vorgeschwebt haben mag, eher zu referieren als auszudrücken, und dabei Ausdruckslosigkeit zu vermeiden. Ein fließendes Tempo ist dafür Voraussetzung; das Lied dauert bei ihr genau halb so lang wie in der die Extreme des Ausdrucks suchenden Interpretation Goernes. Positiv von den Aufnahmen Fischer-Dieskaus, Goernes und Holzmairs hebt sich auch Trexlers Interpretation der «Maske des Bösen» ab, wo Eisler auf dem äußerst knappem Raum von 24 Takten eine Vielfalt von rhythmischen Strukturen versammelt hat. Bei Trexler bleiben diese auf ein- und denselben Viertelpuls bezogen, während die Herren Baritone bereits bei den Vierteltriolen des 2. Taktes das Metrum verlieren und das bei aller Vielfalt streng gestaltete Lied mehr oder weniger zu einem Recitativo accompagnato umfunktionieren. Es gibt weitere ähnliche Beispiele, etwa «Gedenktafel für 4000 Soldaten, die im Krieg gegen Norwegen versenkt wurden», wo Trexler und ihre Begleiterin Jutta Czapski als Einzige die Tempoanweisung „Unruhig (Viertel)“ ernst nehmen, was für die Pianistin sehr unangenehm schnelle punktierte Rhythmen zur Folge hat, aber erst den unerbittlich drängenden Ausdruck herstellt, der diese Miniatur von den vielen freundlichen, in mäßigem Tempo zu singenden Liedern abhebt.
Nicht ganz an Irmgard Arnold heran reicht Roswitha Trexler in der musikalischen Phrasierung. Sie neigt dazu, um der Deutlichkeit der Worte willen Notenwerte zu verkürzen, wodurch sich manchmal ein skandierendes Staccato ergibt, das die musikalische Phrase beeinträchtigt, und ein kapriziöser Charakter, dem es an Eleganz mangelt. Irmgard Arnold hat in dieser Hinsicht zweifellos vom Vorsingen Eislers profitiert und erreichte diese Eleganz nicht zuletzt dadurch, daß sie Eislers einnehmenden wienerischen Tonfall in ihren Gesang übernahm, bis hin zu Eigenheiten der Aussprache.9

Hatte Eisler Recht, als er sagte, man könne seine Lieder auch ohne Stimme singen? 10 (Oder wollte er damit etwa nur seine eigenen Darbietungen ins rechte Licht rücken?) Die Frage stellt sich, wenn man die Aufnahmen der belgischen Sängerin Marianne Pousseur hört. Sie singt gerade heraus und ungestützt, mit einer zarten Stimme, die ohne Mikrophon nicht über die Rampe einer Bühne kommen würde. Klanglich orientiert sich die Aufnahme an den Gepflogenheiten im Pop- und Jazz-Bereich, geht also ganz nahe an die Stimme und an die Hämmer des Klaviers. Auch der Aufführungsstil ist „unklassisch“ 11, nicht nur des fehlenden (oder dann sehr flackernden) Vibratos wegen, sondern auch, weil Schlichtheit und Exaltiertheit keineswegs austariert und ausgeklügelt sind (wie etwa bei Goerne ), sondern spontaner Eingebung zu folgen scheinen. Auch die Pianistin Kaat de Windt ist beim Fade-out, mit dem sie das «Sprengen des Gartens» zu Ende gehen läßt, oder beim skandierenden Gehämmer in «Panzerschlacht» eher von Jazz-Praxis als von klassischen Traditionen geleitet.
Dagegen läßt sich manches einwenden (auch gegen den französischen Akzent und die gelegentlichen Fehler in der Aussprache), es ist dennoch berührender und in gewissem Sinn auch authentischer als die Emanationen der Stimmbesitzer. Bei diesen schiebt sich das sängerische Ego immer wieder penetrant in den Vordergrund, und das ist den Kompositionen von Eisler viel abträglicher als Respektlosigkeit gegenüber dem klassischen Kanon. Daß seine Musik für Adaptionen jenseits der Klassik offen ist, ist mit unterschiedlichem Gelingen immer wieder gezeigt worden, an Liedern aus dem Hollywooder Liederbuch vor Jahrzehnten schon durch Heiner Goebbels, und in jüngerer Vergangenheit durch Anna von Schrottenberg.12

Für die Kategorie „Emanationen der Stimmbesitzer“ ist die Aufnahme der Hölderlin-Fragmente mit Mitsuko Shirai 13 geradezu ein Paradebeispiel. Im ersten Lied «An die Hoffnung» ist das Tempo derart langsam, daß die Gesangslinie in schöne Einzeltöne zerfällt, die weder musikalisch noch inhaltlich irgendeinen Sinn ergeben. Das Tempo beträgt Viertel=ca. 42 – unter „zart drängenden Vierteln“ (so die Tempobezeichnung) stellt man sich doch etwas anderes vor. Günter Leib und Otmar Suitner wählten bei der Uraufführung der Ernsten Gesänge für dieses Lied 14 ein Anfangstempo von Viertel=ca. 96, also mehr als doppelt so schnell. Vielleicht wollten Shirai und ihr Partner am Klavier, Hartmut Höll, eine hoffnungslos depressive Stimmung evozieren, aber nicht einmal diese stellt sich bei solchem vokalen Breitlauf ein. Der Eislersche Gedanke, daß „auch Trauer in einer munteren Art gesungen werden kann, wodurch die Trauer viel höher wird als in dieser langweiligen Weise“,15 ist diesen Interpreten offenbar völlig fremd.
Auch Dietrich Henschel, der aus dem Hollywooder Liederbuch die Hölderlin-Fragmente sowie die Anakreontischen Fragmente aufgenommen hat, 16 geht «An die Hoffnung» wesentlich langsamer als Leib an, mit Viertel=ca. 76. Er scheint sich bei diesem Lied Fischer-Dieskaus Aufnahme zum Vorbild genommen zu haben, ja seine Interpretation ist dieser sogar zum Verwechseln ähnlich (nur das Wort „kalt“ trägt der jüngere Dietrich etwas wärmer vor). Im weiteren Verlauf folgt Henschel zum Glück nicht den Fehlgriffen des Altmeisters, sondern singt wie ein Fischer-Dieskau der besseren Tage, nämlich vokal gepflegt und in bestem Sinne einfühlend, unterstützt vom klar strukturierten Klavierpart Axel Baunis. Fragwürdig wird diese Herangehensweise allerdings spätestens beim dritten der Anakreontischen Fragmente («Die Unwürde des Alterns»), wo Henschel die Anweisung „mit scharfem, unangenehmem Ausdruck zu singen“ zum Anlaß nimmt, sich in einen keifenden Wicht à la Alberich oder Mime zu verwandeln. Da zeigt es sich dann, daß die im klassischen Liedgesang immer noch dominierende Einfühlungsästhetik nicht mit Eislers Kompositionen kongruent ist, und daß ohne Kenntnis dessen, was Eisler unter Haltung und Gestus verstand, eine überzeugende Interpretation seiner Lieder nicht zu haben ist.

1 siehe z.B. Hanns Eisler, «Gespräche mit Hans Bunge», Leipzig 1975, S. 148 (Gespräch vom 18. Juli 1961): „...was ich ‚musikalische Intelligenz’ nenne. Das heißt, daß man den Text widerspruchsvoll singt. Daß, wenn zum Beispiel das Wort ‚Frühling’ kommt, der Sänger nicht den Frühling durch Schmelz in der Stimme andeutet – um es nur ganz primitiv zu sagen.“
2 mit dem Komponisten Aribert Reimann am Klavier; 1988 bei Teldec publiziert, 2001 auf dem Label apex von Warner Classics reediert.
3Dietrich Fischer-Dieskau: «Musik im Gespräch. Streifzüge durch die Klassik mit Eleonore Büning», München 2003, S. 108f.
4 Fischer-Dieskau behauptet im Gespräch mit Büning (a.a.O.), als erster das Hollywooder Liederbuch integral aufgeführt zu haben. Die CD enthält allerdings nur etwa die Hälfte der Lieder, die dem Hollywooder Liederbuch zugerechnet werden können, ergänzt durch Lieder aus Eislers früheren Exiljahren sowie aus der DDR-Zeit.
5Die CD erschien 1998 in der Reihe «Entartete Musik» des Labels Decca.
6Hanns Eisler, a.a.O., S. 148.
7 Es handelt sich um eine Koproduktion mit dem NDR, die von Schwann Koch 1996 publiziert worden ist. Mangelnde Sorgfalt läßt auch das Cover erkennen, auf dessen Vorderseite der Vorname des Komponisten falsch geschrieben ist (Hans).
8Dadurch erklären sich die Unterschiede, die in der Zusammensetzung des Hollywooder Liederbuchs bestehen. Holzmairs CD umfaßt alle 47 Lieder, die in der Edition des Deutschen Verlags für Musik von 2007 abgedruckt sind (mit diesem von Oliver Dahin und Peter Deeg korrigierten Reprint der Erstausgabe von Manfred Grabs wurde das Hollywooder Liederbuch erstmals separat publiziert), ordnet sie aber anders. Goerne folgt der Chronologie, die nach dem damaligen Kenntnisstand die Reihenfolge der Lieder in der Edition von Manfred Grabs bestimmt hat.
9Károly Csipák nennt Irmgard Arnolds Aufnahmen den „oftmals bewundernswürdig gelungenen Versuch, den Tonfall des Autors in den professionellen Gesang zu übertragen“, in: «Wie soll man Hanns Eislers Lieder singen? Zu Dietrich Fischer-Dieskaus Interpretation», Dissonanz Nr. 26, November 1990, S. 20.
10„Jedenfalls wird es ein Mensch gut singen, der kein Dummkopf ist. Er wird es gut singen, eventuell auch ohne Stimme.“ Hanns Eisler, a.a.O., S. 148.
11Dazu passend der Name des Labels, «unclassic sub rosa», auf dem die 1994 entstandenen Aufnahmen erschienen sind. Die CD enthält unter dem Titel «war & exile» nebst 12 Liedern aus dem Hollywooder Liederbuch weitere Exil-Lieder Eislers sowie einige Lieder des populären Genres (u.a. «Wiegenlieder einer Arbeitermutter», «Ballade von der ‚Judenhure’ Marie Sanders»)
12 «Despite Eisler», 7 Lieder aus dem Hollywooder Liederbuch, Arrangements von Christian Rösli für Gesang, Electronics, Kontrabaß und Trompete, 2006 auf dem Label Polyphenia erschienen.
13auf einer CD mit Hölderlin-Gesängen von Friedrich Theodor Fröhlich bis Karl Michael Komma, 1994 bei Capriccio erschienen.
14Eisler hat «An die Hoffnung» 1962 in einer Fassung für Bariton und Streichorchester in die Ernsten Gesänge integriert.
15Hanns Eisler, a.a.O., S. 149.
16Die CD, 1998 bei Orfeo erschienen, enthält außerdem, unter Mitwirkung der Sopranistin Michaela Kaune, frühere Lieder Eislers (Galgenlieder nach Morgenstern, 6 Lieder op. 2, Zeitungsausschnitte op. 11 u.a.).

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