Musik als schlechtes Theater?

Gedanken zu einer nicht-einfühlenden Darstellungsweise von Musik – angeregt durch Brechts Schauspielkritik

"Ich kannte einmal einen Oberkellner, der mir eine sehr gute Kritik des Benehmens von Dirigenten gab. Er sagte mir: "Wenn ich mit einem solchen Aufwand von Grimassen, Gesichtsverzerrungen und bombastischen oder süsslichen Gebärden meine Speise servieren würde, könnte ich mich keine acht Tage halten. Es ist doch unmöglich", so meinte er, "dass der Kapellmeister, bevor ein gesangliches Thema kommt, schon anfängt, ein süssliches Gesicht zu schneiden. Er kann doch nicht die Musik vorverdauen; ich könnte auch nicht einem Gast kauend und rülpsend ein Stück Fleisch auf den Tisch stellen."

Hanns Eisler1

In einer Diskussion zum Begriff des sozialistischen Realismus bemerkte Eisler 1958, dass Dirigenten und vor allem Sänger dringend bei Brechts Theater-Theorie und -Praxis zu lernen hätten, nämlich "Gestik, Masshalten, Deutlichkeit, auch Nicht-Identifizierung, sondern Darstellung, weder Weinerlichkeit noch Gebrüll"2. Eislers Vorschlag lohnt aufgegriffen zu werden, nicht zuletzt, weil Brechts Theorie sich am Widerstand gegen einen Theaterstil entwickelte, welcher in seiner Neigung zu melodischen Kurven und vibrierendem Pathos viel von Musik an sich hatte. Setzte sich jedoch im Theater unter dem Einfluss des Films in den folgenden Jahren eine nüchternere Darstellungsweise durch, so erhält sich die gängige Musikinterpretation bis heute als Hort der Irrationalität. Dummheiten von einer Art, die im heutigen Theater schallendes Lachen provozieren würde, werden von vielen Konsumenten klassischer Musik noch immer als höchste emotionale Offenbarung gefeiert.
Ich versuche im folgenden, durch einen Rekurs auf Brecht zur Kritik der herrschenden Musikinterpretation beizutragen und aus der Analyse einiger Musikbeispiele Orientierungspunkte für eine alternative Praxis zu gewinnen.

I.

Zentral für Brechts Theorie ist die Kritik der Einfühlung. Damit ist gemeint der Verzicht des Schauspielers auf die Identifikation mit seiner Rolle. Indem er nicht vorgaukelt, selbst die von ihm verkörperte Figur zu sein, sondern diese zeigt, macht er den Zuschauer nicht zum Sklaven seiner Gefühle, sondern gibt ihm durch die Distanz die Möglichkeit, die dargestellten Vorgänge wie die Darstellung selbst kritisch zu beobachten. Das Verhalten der Figur erscheint dergestalt nicht mehr als schicksalhaftes "So und nicht anders", sondern als Entscheidung, in welcher andere Möglichkeiten der Entscheidung sichtbar sein müssen. So wird die Welt als behandelbar gezeigt, statt dass der Zuschauer verführt wird, vermittels der Einfühlung Partei zu nehmen für eine Figur, deren Interessen möglicherweise nicht die seinen sind.
Nun ist zu fragen, inwiefern diese Kritik für Musik von belang ist, da doch ausser in bestimmten Gattungen der Vokalmusik dem Musiker nicht eine Rolle im Sinne des Theaters übertragen ist. Das klingt selbstverständlich, ist es aber keineswegs. Wie sich bedeutende und weniger bedeutende Interpreten eine Rolle anheischig machen, wo sie ihnen doch nicht ausdrücklich gegeben ist, lässt sich im Konzertsaal gut beobachten: insbesondere Dirigenten und Solisten funktionieren oft die Darstellung von Musik zu schlechtem Theater um. So wird eine Konzeption von Musik deutlich, die freilich auch ohne Faxen Triumphe feiert: die Konzeption nämlich, dass eine Komposition eine Art "Psychogramm" sei, dass ihr ein Subjekt zugrundeliege, dessen wechselnde Gefühle ihren Inhalt ausmachten und also die Einfühlung, das Mitvollziehen dieser Stimmungskurve, Aufgabe des Interpreten sei.
Nun setzt sich allerdings diese Konzeption bei vielen Musikern durch, ohne dass die Frage nach dem Subjekt der Komposition überhaupt gestellt würde. Viel öfter projiziert der Interpret eine seinem Charakter entsprechende Gefühlskurve ins Werk hinein. Daher kommt es, dass bei manchen Berühmtheiten die verschiedensten Kompositionen so fatal ähnlich klingen – ein Umstand, den die Musikkritik insofern reflektiert, als sie bestimmten Interpreten, was immer sie auch spielen, stets gleiche Attribute zuschreibt.
Wir untersuchen nun anhand einiger Musikbeispiele, ob Einfühlung ein tauglicher Ansatz zur Darstellung von Instrumentalmusik ist, ob die ihr zugrunde liegende Konzeption die generelle Richtigkeit hat, die ihre weite Verbreitung vorgibt. Dazu bedarf es zunächst eines kleinen Exkurses über die Entstehung der Komposition.

II.

In seinem Buch Geschichte als Weg zum Musikverständnis3 hat Georg Knepler die Herausbildung der Komposition als Resultat eines intersozialen Aneignungsprozesses4 nachgewiesen, der seine Ursache in den Konflikten der feudalen Gesellschaft hat. Mit der Erhebung des Katholizismus zur Staatsreligion und der Kirche zur Feudalmacht (also zur Besitzerin an Boden und Menschen) nahm die Liturgie eine durch Fremdartigkeit gehobene Feierlichkeit an. Der Gemeindegesang wurde rigoros eingeschränkt, die Liturgie von Berufssängern zelebriert. Damit drohte aber die Wirkung auf die Bauern verlorenzugehen. Um die Liturgie anziehender und eingängiger zu machen, übernahmen die Kleriker Musizierelemente der Bauern. So wurden, um die gesellschaftliche Kluft zwischen Kirche und Bauern zu überbrücken, Musizierelemente beider Sphären miteinander verbunden. Die Organalpartien des zur Pariser Notre-Dame-Schule gehörenden Perotinus, die zu den ersten überlieferten Kompositionen im engem Sinn zählen, belegen diese Synthese: lang gedehnte, dem Choral entnommene Töne, die Ruhe und Feierlichkeit bedeuten und den Zusammenhang mit der Tradition der Kirche herstellen; darüber die andern Stimmen, die einen reigenartigen Klangkomplex bilden (in unserer Notation 6/8-Takt), sie stellen den Zusammenhang mit der Sing-, Spiel- und Tanzsphäre der Spielleute her.
In diesem Zusammenhang wichtig ist die Tatsache, dass Komposition i. e. S. überhaupt erst entsteht als Synthese ihrer Herkunft und ihrem Wesen nach widersprüchlicher Elemente. Auch von den Gegnern dieses Prozesses wurde das klar erkannt. So polemisierte Bernhard von Clairvaux (nach 1134) gegen diejenigen, "die trennen, was zusammenhängt und Gegensätze verbinden. Sie verwirren auf solche Weise alles … sie legen zusammen (componunt) und richten ein (ordinant)"5.
Voraussetzung für diese Synthese ist die eigentümliche Möglichkeit von Musik, ihrem Wesen nach völlig verschiedenartige Gestalten gleichzeitig erklingen zu lassen, bei Wahrung der Verständlichkeit jeder Schicht – eine Möglichkeit, welche die Sprache nicht hat. Ensembleszenen in Opern nutzen diese Möglichkeit aus zur sinnfälligen Darstellung einer widerspruchsvollen Totalität. Ähnliche Verfahrensweisen finden sich auch in Instrumentalmusik. Als Beispiel sei hier die letzte Variation im dritten Satz des Streichquartetts A-Dur KV 464 von Mozart angeführt. (Beispiel)



Man bemerkt leicht, dass hier das Cello eine den drei Oberstimmen im Charakter völlig entgegengesetzte Stimme spielt. Ihr rasches Pendeln zwischen weit auseinanderliegenden staccato-Tönen und der Rhythmus verleihen ihr etwas Beschwingtes, Fröhliches, das den Ernst der kantablen Oberstimmen kontrastiert. So sehr die beiden Komplexe emotional divergieren, sind sie hinsichtlich der Harmonik aufeinander angewiesen: weder die Cellostimme noch der Violinen-Viola-Komplex sind für sich genommen harmonisch sinnvoll. "Sie können weder ohne einander leben noch miteinander."6 An solch dialektischer Musik entblösst die einfühlende Interpretation ihre Unzulänglichkeit. Einfühlung bezieht sich immer auf ein bestimmtes Gefühl, sei dieses auch ein sich wandelndes oder ein gemischtes, wie etwa das legendäre "Lächeln unter Tränen", welches einige duselige Musikschreiber zum Markenzeichen Mozarts erkoren haben.
Wie wird nun die einfühlende Interpretation mit solch einer Stelle fertig? Zum Beispiel: Sie treibt der Cellopartie den aktivierenden Charakter aus, indem sie das ohnehin zu langsame Anfangstempo (95 Achtel pro Minute) in dieser Variation noch zusätzlich reduziert (auf 88 Achtel). Der Cellist spielt statt staccato tenuto, versieht seine Stimme mit etwas espressivo – die Gleichschaltung ist beinahe perfekt. So zu hören auf einer Schallplatte des Quartetto Italiano.7 (Ganz lässt sich die Gleichschaltung nicht vollziehen, man hat ja nicht die Skrupellosigkeit eines James Last, der hier bestimmt auch noch den Rhythmus angliche.) Wie faszinierend diese Musik in einer adäquaten Darstellung ist, zeigt die Aufnahme des Alban-Berg-Quartetts.8 (Tempo: 110 Achtel pro Minute, ohne Verlangsamung in der besprochenen Variation).
Widerstreitende Elemente brauchen nicht unbedingt in einer polyphonen Struktur organisiert zu sein. Sie können sich auch durch die verschiedenen Parameter, aus denen Musik sich zusammensetzt, artikulieren. (Beispiel)



In den ersten Takten von Beethovens viertem Klavierkonzert steckt sowohl ein ruhiges als auch ein drängendes Element. Ruhig sind die Fortschreitung der Harmonie, deren Fülle, das piano; drängend die Repetitionen im Achtel-Rhythmus, verschärft durch staccato. Das Zurückbinden des drängenden Moments ist hier schon eine Art internationaler Übereinkunft: kaum je hört man diesen Anfang a tempo und die Achtel staccato. Dabei ist es gerade das drängende Moment, das sich im Verlauf der Exposition entfaltet und – gesteigert durch crescendo – bestimmend wird (T. 18 ff. und 40 ff.). Die Pianistengarde, welche diesen Anfang so enorm tiefsinnig spielt und das Publikum durch entsprechend versunkene Haltung zum Mitfühlen bewegt, leistet im Grunde nichts anderes als die Zerstörung von Beethovens Logik der Entwicklung.

III.

Um Musik zu begreifen – und darstellen setzt wohl begreifen voraus –, muss sie in ihrer inhaltlichen Dimension, in ihren Bedeutungen erfasst werden. Ich skizziere im folgenden am ersten Satz des Streichquartetts C-Dur KV 465 von Mozart, wie das gemacht werden kann.
Der bedeutende Musiktheoretiker August Halm schrieb über den Widerspruch in Mozarts Musik: "Es ist vielen geläufig, dass in seinen Werken mitunter unerwartete Ausblicke in Möglichkeiten von Freiheiten geschehen, die sich eine spätere Zeit erst erobern sollte. […] Mozarts harmonische Feinheiten gleichen einzelnen wohlgelungenen Experimenten, sie sind noch nicht durch die Spekulation in ein harmonisches Weltbild von Musik eingeordnet; sie bestrahlen ihre Umgebung, ohne doch organisch mit ihr zusammenzuwirken. So erfahren wir es schmerzlich, wie wenig die harmonisch hochstehende Eröffnung des C-Dur-Quartetts auf das ihr folgende Allegro wirkt, wie dessen Habitus die musikalische Tiefe des Vorspiels zu verleugnen scheint."9
Mit dem Scharfblick des Kritikers bemerkt Halm den Widerspruch zwischen volkstümlich-einfachen und hochentwickelten Strukturen, den er beschreibt als "Kostbarkeiten inmitten von alltäglichen oder wenig seltenen Dingen; manchmal vielleicht sogar Heiligtümer, von wenig heiligen Vorhöfen umgeben."10 Es braucht uns in diesem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren, dass Halm aufgrund dieses Befundes eine Wachstumsstörung bei Mozart diagnostiziert, für welche er die dem Geist feindliche Realität verantwortlich macht, welche "dem Keim die nötige Nahrung versagte und das Wachstum schädigte".11
Was Halm in seiner Abneigung gegen das Alltägliche freilich überhörte, ist, dass im C-Dur-Quartett die harmonisch hochstehende Einleitung durchaus auf das ihr folgende Allegro wirkt. Zwar werden die beiden Ebenen in hartem Kontrast exponiert: Auf die dissonanzenreiche, komplexe, höchst expressive Einleitung folgt ein recht simples Allegro-Thema, das mit der in repetierten Achteln gehaltenen Begleitung an jene unentwickelte Form des Quartetts gemahnt, das sowohl orchestral wie solistisch ausgeführt werden konnte.12 (Dieser Sphäre entstammen auch die quasi orchestralen Tremolos, die in der Coda des Satzes in den Mittelstimmen auftreten.) Nach der Exposition der beiden Ebenen geht Mozarts Anstrengung13 dahin, sie zueinander in Beziehung zu setzen. Er bedient sich der für die Einleitung charakteristischen harmonischen und kontrapunktischen Verfahren, um dem Divertimento-Charakter des Allegro-Themas subjektiv-individuellen Ausdruck aufzuprägen. Es ist hier nicht der Platz, diese Synthese in ihren verschiedenen Stufen zu analysieren. Immerhin sei ihre Art am Beispiel des Beginns der Coda kurz erläutert. (Beispiel)

Beginn des Allegros:


Beginn der Coda:


Die ersten beiden Takte des Allegro-Themas sind ursprünglich rein diatonisch. Die Alteration des zweiten c zu cis ergibt jenes chromatische Dreiton-Motiv, das in der Einleitung eine wichtige Rolle spielt. Ebenfalls von dort übernommen ist das Verfahren der Imitation in Engführung. Im vierten und fünften Takt der Coda werden dissonante Akkorde gebildet, die insofern mit den berühmten der Einleitung in Zusammenhang stehen, als sie wie diese ein Gleichgewicht von harmoniefremden und -eigenen Noten aufweisen. Die Chromatisierung des Themas trägt ebenfalls zur komplexen Harmonik dieser beiden Takte bei: sie bewirkt, dass der Vorhaltsakkord auf dem ersten und dritten Viertel sich nicht in den F-Dur-Dreiklang auflöst, sondern die Subdominante alteriert als übermässiger Dreiklang erscheint. Imitatorik, Chromatik und Vorhaltsakkord ähnlich wie in der Einleitung, aber angewendet auf das thematische Material des Allegro-Themas und grundiert von dessen leichtfüssig repetierenden Achteln – dies ist eine Art des Zusammenwirkens zweier Ebenen, die mit Halm als "nicht organisch" betrachten mag, wer organisch gleichsetzt mit widerspruchsfrei.
Hinter der widersprüchlichen Einheit, die Mozart in diesem Quartettsatz realisiert, steht ein ästhetisches Programm: Mozart erkannte die Spaltung der Musikhörer in "Kenner" und "Nichtkenner", und es war sein Ziel, Musik zu schreiben, die beide zu befriedigen vermag. So schreibt er in einem Brief, drei Tage vor der Niederschrift des Quartetts G-Dur KV 387, des ersten der Reihe, welcher auch das hier besprochene Werk angehört: "hie und da können auch Kenner allein Satisfaktion erhalten, doch so, dass die Nichtkenner damit zufrieden sein müssen, ohne zu wissen, warum."14 Weder wollte er Musik schreiben, die so simpel ist, dass sie ein Fiaker nachsingen kann, noch solche, die kein vernünftiger Mensch verstehen kann.15 Der hier besprochene Satz stellt einen Versuch dar, die Spannung zwischen Allgemeinverständlichkeit und entwickeltem musikalischem Anspruch zu bewältigen. Die komplexen Partien müssen verständlich sein: Dissonanzen werden nicht willkürlich gesetzt, sondern durch Polyphonie zwingend herbeigeführt. Das Volkstümliche verliert durch die Verfahrensweisen, denen es unterzogen wird, seine Banalität.
Durch eine Analyse des Widerspruchs, wie er sich im Seitensatz-Thema manifestiert, versuche ich nun, den Gestus der beiden Ebenen noch genauer zu bestimmen. Für die Darstellung ist dies von grösster Bedeutung. Verzichtet man darauf, liefert man das Werk der Willkür subjektiver Empfindung aus. (Beispiel)





Erste Phrase harmonisch einfach, durchwegs auf Tonika; Übereinstimmung der Betonungen mit dem Taktschema; 1. Violine als Melodieträger, 2. Violine Begleitung in Terzen, Viola Füllstimme, Cello Bass-Fundament, also eine Quartett-Satzweise aus der Zeit vor der spezifischen Ausprägung der Gattung.
Dagegen die zweite Phrase: harmonisch komplex, chromatisch, schnelle Harmoniewechsel; wegen der Synkopierung in der 1. Violine fällt die Betonung auf die Eins des dritten Taktes weg, also keine schematischen Betonungen; keine Dominanz der 1. Violine.
In der dritten Phrase kompliziert Mozart durch die Imitation des Themas die Metrik gegenüber der ersten Phrase: Jetzt fällt auf die Eins und die Drei sowohl eine starke wie eine schwache Betonung. Ein weiteres Merkmal der ersten Phrase, die Homophonie, entfällt natürlich ebenfalls.
Der Gestus der ersten Phrase ist tanzartig, volkstümlich, fröhlich, und es ist gewiss kein Zufall, dass sie eine ähnliche Konstruktion (Harmonik, Satzweise, Wiederholung eines aus drei beieinanderliegenden Tönen bestehenden Triolen- bzw. 6/ 8-Motivs) aufweist wie der Beginn des Chors der Bäuerinnen und Bauern im 1. Akt des Don Giovanni. (Beispiel)



Dieser Chor drückt ein kollektives Freudengefühl aus, die Bäuerinnen und Bauern spielen, tanzen und singen. Liebe wird hier nicht zusammengedacht mit der Sphäre subjektiver Innerlichkeit, sondern mit Freude, Tanz und Gesang (godiamo, balliamo, cantiamo, saltiamo). Ein solcher Gestus liegt auch der ersten Phrase des besprochenen Themas zugrunde. Er wird im Chor natürlich unverändert durchgehalten, im Quartett dagegen abrupt gebrochen. Die zweite Phrase des Quartett-Themas und des Opernchores sind grundverschieden.
Für die zweite Phrase des Quartett-Themas ist charakteristisch die zweimalige Verwendung des verminderten Septakkordes. Er wird jeweils so aufgelöst, dass sich in der obersten Stimme eine chromatisch absteigende Linie bildet. Die ausserordentliche Bedeutung, die dieser Akkord zu Mozarts Zeiten hatte, ist wegen der starken Abnutzung, der er im 19. und 20. Jahrhundert ausgesetzt wurde, für uns nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Mozart macht nur selten und gezielt von ihm Gebrauch. So erscheint er in der Exposition des Allegros sonst nur noch an einer Stelle: auf dem Höhepunkt jenes Abschnittes, der zur Wiederholung der Exposition bzw. zur Durchführung hinführt – an einem formalen Wendepunkt also. Damit ist zwar etwas über sein Gewicht, aber noch nichts über die emotionale Bedeutung, die Mozart ihm zuordnet, gesagt. Dieser kommen wir auf die Spur, wenn wir seine Verwendung in den Opern dieser Periode studieren: in Le nozze di Figaro, die Mozart noch im Jahr der Entstehung des C-Dur-Quartetts (1785) zu komponieren begann und im Don Giovanni (1787). Wir finden auch hier einen sehr gezielten Einsatz dieses Akkordes. Mozart setzt ihn immer dort ein, wo von bedrohter oder unerfüllter Liebe, Leiden oder Tod die Rede ist. So hebt z. B. in der zweiten Arie des Cherubin ("Voi che sapete") ein verminderter Septakkord das Wort "languir" (leiden) hervor. Der erste verminderte Septakkord im 1. Akt des Don Giovanni tritt am Schluss der Fechtszene, die den Tod des Commendatore vorstellt, auf. Die Stelle im Figaro, wo der Graf den Entzug der in ihm erweckten Zuneigung für Susanna beklagt (Arie im 3. Akt: "die in mir eine Zuneigung weckte, die sie dann für mich nicht hat") ist nach demselben harmonischen Verfahren gestaltet wie die Akkordfolge in der zweiten Phrase des besprochenen Quartett-Themas. (Beispiel). Exakt dieselbe Akkordfolge, nämlich (VII verm.)II, II alteriert, VII verm., I, finden wir im Duett Donna Anna/Don Ottavio, wo Don Ottavio Donna Anna auffordert, die bittere Erinnerung an den Tod des Vaters zu lassen. (Beispiel).



Wir stellen also eine enge Verbindung dieses Akkordes bzw. dieser Akkordverbindung mit einer bestimmten Ausdruckssphäre fest. So ist die Folgerung durchaus zulässig, dass im Seitensatz-Thema des Quartettsatzes einem Gestus der kollektiven Freude (erste Phrase) der Ausdruck subjektiven Leidens (zweite Phrase) entgegengesetzt wird. (Bei aller gestischen Verschiedenheit liegt beiden Phrasen das gleiche Motiv zugrunde. Diese Identität tritt dem Hörer kaum ins Bewusstsein, gewährleistet aber gerade dadurch sowohl Gegensätzlichkeit wie Geschlossenheit des Themas.)
In unserem Zusammenhang entscheidend ist nun, dass in diesem Thema, wie überhaupt im ganzen Satz, Ausdrucksebenen konfrontiert werden, die nicht als Stimmungskurve eines der Komposition unterstellten Subjekts aufgefasst werden können, umso mehr, als sie in der Synthese auch gleichzeitig erklingen, wie im oben angeführten Beispiel aus der Coda. Wer, wie Ekkehard Kroher im Begleittext zur Schallplatten-Aufnahme des Tokyo String Quartet16 das C-Dur-Quartett als "Psychogramm" auffasst, wird es stets nach der einen oder anderen Seite zurechtbiegen müssen. Beispielhaft zeigt sich die Einebnung in der Gestaltung des analysierten Seitensatz-Themas: entweder man wählt einen frisch-fröhlichen Ton und unterspielt das expressive Moment, indem man das crescendo der zweiten Phrase nicht ernst nimmt (Amadeus-Quartett)17 oder man belädt die erste Phrase durch Dehnungen und Schweller mit Tiefsinn (Tokyo String Quartet). Beide Konzeptionen kommen mit dem Widerspruch dieses Satzes nicht zu Rande, ebensowenig wie Halm, der in Sperrschrift jammert: "Wo ist denn nun die Musik geblieben, welche dieser Einleitung folgt?"18 oder die Philister wie Fétis oder Ubilischeff, welche umgekehrt ebendiese Einleitung glaubten korrigieren zu müssen.
Einfühlung, definiert als Bemühung des Interpreten, seine Stimmungskurve mit der, die er im Werk zu entdecken meint, in Einklang zu bringen, erweist sich hier als unbrauchbar. In unseren Beispielen haben wir gesehen, dass in Musik widersprüchliche Ebenen gegen- oder übereinander gesetzt werden können, in die sich der Interpret nicht in derart schnellem Wechsel bzw. gleichzeitig "einleben" kann. Das hat zur Folge, dass ein Musiker, der vom "Erleben" ausgeht, zwangsläufig den gestischen Reichtum einer solchen Komposition einebnet. Wir kommen also zum scheinbar paradoxen Schluss, dass eine nicht-einfühlende Darstellung erforderlich ist, gerade um den emotionalen Gehalt voll zur Geltung zu bringen. Diese Darstellung hätte auszugehen von einer Analyse nicht nur der thematischen, harmonischen, formalen Beziehungen, sondern auch der in ihnen sedimentierten Bedeutungen. Aufgabe des Musikers wäre es, auszuprobieren, mit welchen Darstellungsmitteln die inhaltlichen und formalen Strukturen verständlich gemacht werden können. Beabsichtigt ist dabei keineswegs eine Verdrängung der Emotion durch den Verstand, vielmehr soll dieser zu differenzierterem, weniger obeflächlichem Ausdruck hinführen.
Man mag einwenden, dass die Überlegenheit einer nicht-einfühlenden Darstellungsweise in diesem Aufsatz bis jetzt nur für einige wenige Musikstücke nachgewiesen wurde. Ich wage indessen die Hypothese, dass die Mehrzahl der grossen Instrumentalwerke des 18.–20. Jahrhunderts Kompositionen im ursprünglichen – bei Mozart beispielhaft umfassenden - Sinne sind. Nun gibt es allerdings Gattungen, in denen die einfühlende Interpretation ihrem Gegenstand angemessen zu sein scheint. In erster Linie ist da das lyrische Lied zu nennen. Ihm wenden wir uns im folgenden zu.

IV.

Wir untersuchen also, ob sich die einfühlende Interpretation bewährt in einem Werk, wo ein Subjekt durch den Text gegeben ist: im Liederzyklus Winterreise von Wilhelm Müller und Franz Schubert.
Um was für ein Subjekt handelt es sich hier? In zwei Gedichten (Lindenbaum und Rückblick) wird es als "Geselle" bezeichnet. Offenbar ein wandernder Handwerksgeselle, denn er kommt bereits als Fremder in die Stadt ("Fremd bin ich eingezogen")19. Seine Reise beginnt also nicht erst, als er von seiner Liebsten verlassen wird. Nur hoffte er, durch die Heirat mit ihr, der reichen Braut ("Ihr Kind ist eine reiche Braut")20, sich sesshaft machen zu können, d.h. vom Gesellen zum Meister aufzusteigen. Die wandernden Handwerksgesellen waren die am stärksten ausgebeutete gesellschaftliche Schicht jener Zeit. Da das Handwerk von den Zünften völlig monopolisiert wurde, hatte ein Geselle nur Chance, Meister zu werden und so der Ausplünderung zu entgehen, wenn er die Tochter eines Meisters heiratete. In der Geschichte des Müllerschen Gesellen wurde das Versprechen ("Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh ")21 zugunsten einer besseren Partie gebrochen. Nun muss der "arme Flüchtling"22 wieder zur Stadt hinaus. Dieser Ausschluss, so sehr er ihn schmerzt, führt den Gesellen zur Ablehnung einer Welt, in der er Ruhe nur als Illusion oder im Selbstmord finden kann. So steht es im Lindenbaum: "Am Brunnen vor dem Tore / da steht ein Lindenbaum; / ich träumt in seinem Schatten / so manchen süssen Traum. (…) Nun bin ich manche Stunde / entfernt von jenem Ort, / und immer hör ich's rauschen: / du fändest Ruhe dort!" Der Hut, Symbol städtischer Bürgerlichkeit, fliegt dem Gesellen vom Kopfe, aber er bemüht sich nicht, ihn zurückzuholen ("ich wendete mich nicht")23 – so sich distanzierend von der Stadt. Diese bewusste Abwendung ist im Rückblick noch einmal klar ausgedrückt ("Ich möcht' nicht wieder Atem holen, / bis ich nicht mehr die Türme seh'"), wenngleich noch gebrochen von der Sehnsucht nach der Liebsten. Indessen tritt gerade nach dem Rückblick das Motiv der verlorenen Liebsten nicht mehr auf.24 Einmal (Die Nebensonnen) wird es zwar noch angedeutet, im Frühlingstraum ist jedoch in bewusstem Kontrast zur Wetterfahne von "Lieb' um Liebe" die Rede. ("Ich träumte von Lieb' um Liebe, / von einer schönen Maid"). Im zweiten Teil der Winterreise weitet sich der Schmerz über die verlorene Liebe aus zum Leiden an den mit Illusionen und falscher Ruhe sich begnügenden Menschen. "Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten; / es schlafen die Menschen in ihren Betten, / träumen sich manches, was sie nicht haben, / tun sich im Guten und Argen erlaben, / und morgen früh ist alles zerflossen – / je nun, sie haben ihr Teil genossen / und hoffen, was sie noch übrig liessen, / doch wiederzufinden auf ihren Kissen. / Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde, / lasst mich nicht ruhn in der Schlummerstunde! / Ich bin zu Ende mit allen Träumen – / was will ich unter den Schläfern säumen?" (Im Dorfe)
"Ach, dass die Luft so ruhig! / Ach, dass die Welt so licht! / Als noch die Stürme tobten, / war ich so elend nicht." In diesem Lied, Einsamkeit betitelt, spielt Müller wahrscheinlich auf die Ruhe der Restaurationszeit an.25 Nach der Niederlage Napoleons wurden die bürgerlichen Freiheitsrechte, die dessen Feldzug trotz der Plünderungen gebracht hatte, restlos rückgängig gemacht und die alten Fürstendynastien wieder in ihr volles Recht eingesetzt. Die Ruhe, welche nach dem Wiener Kongress 1815 in Europa einkehrte, war erzwungen durch scharfe Unterdrückungsmassnahmen. So beinhalteten die Karlsbader Beschlüsse von 1819 u. a. Ablehnung von repräsentativen Verfassungen, Zensur, Zentrale Untersuchungskommission zur Verfolgung von fortschrittlichen Kräften, die Entsendung von Bundestruppen gegen Mitglieder des Deutschen Staatenbundes, die infolge "Widersetzlichkeit der Staatsangehörigen und Untertanen nicht in der Lage sind, die Bundesbeschlüsse zu vollstrecken." So wurde jede Opposition im Keim erstickt. Darauf bzw. auf die vorangegangenen Napoleonischen Befreiungskriege nimmt die zitierte Strophe wohl Bezug. Das Leiden an dieser Situation treibt den Gesellen in die totale Isolation (Wegweiser, Irrlicht). Aber das "kühle Wirtshaus"26, das Grab, in welches er aufgenommen werden möchte, weist ihn ab. Er, der den Protest gegen das Bestehende verkörpert, darf nicht verschwinden. Er rafft sich auf, allen Widrigkeiten zum Trotz durchzuhalten ("Fliegt der Schnee mir ins Gesicht, schüttl' ich ihn herunter")27
Ein Zurück in die Gesellschaft, die er verlassen hat, kann es allerdings nicht geben. Solidarität findet er bei einem, der selbst von allen verlassen ist: dem Leiermann. ("Keiner mag ihn hören, / keiner sieht ihn an")28. In der Frage "Willst zu meinen Liedern / deine Leier drehn?" steckt freilich auch die selbstkritische Ironie, dass die Lieder des Gesellen niemand hören will, dass sie also in ihrer Isolation nicht in den geschichtlichen Prozess einzugreifen vermögen. ("Und er lässt es gehen / alles, wie es will, / dreht, und seine Leier / steht ihm nimmer still.")
Wie verhält sich Schubert zu Müllers Winterreise? Nehmen wir als Beispiel das oben zitierte Gedicht Im Dorfe. Müller beschreibt die Haltung der Bauern, welche sich damit abfinden, von dem, was ihnen in Wirklichkeit mangelt, zu träumen. Die Unzulänglichkeit dieser Haltung macht Müller durch Ironie deutlich: "Je nun, sie haben ihr Teil genossen / und hoffen, was sie noch übrigliessen / doch wiederzufinden auf ihren Kissen." Just zu diesen Worten nun setzt Schubert eine Musik, die wahre Erfüllung ausdrückt. Zu dieser Umdeutung fügt sich, dass die Worte "hoffen" und "doch wiederzufinden" in Schuberts Version wiederholt werden, während doch die Pointe in dem Wort "Kissen" liegt. Schuberts Musik suggeriert also, dass auf den Kissen bei genügendem Hoffen das Glück gefunden werden kann, dass der Traum also tatsächlich das Glück bringt – eine völlige Umkehrung der Müllerschen Intention. Wenn es der Traum ist, der Erfüllung gewährt, kann einer, der zu Ende ist mit allen Träumen, sein Glück natürlich nur noch bei Gott versuchen. In-sofern ist es konsequent, dass Schubert den Worten "Was will ich unter den Schläfern säumen?" durch die choralartige Satzweise eine transzendente Wendung gibt – anstatt sie aufzufassen als rein irdische Kritik an Selbstgenügsamkeit und Illusionsgauklerei.
Auch in anderen Liedern hat Schubert Ironie und Doppelsinnigkeit nicht entsprechend musikalisch umgesetzt, z. B. die obenerwähnte Doppelsinnigkeit des Wortes "Ruhe" im Lindenbaum. In Schuberts Lied verströmt der Lindenbaum eitel Seligkeit, die Abwendung des Gesellen von ihm hingegen ist in Moll gesetzt. Die trügerische Einladung des Lindenbaums erscheint so als wahrhaft glückbringende, der der Geselle wegen seiner düsteren Laune nicht nachkommen mag.
Eine bezeichnende Akzentverschiebung setzt Schubert im Lied Die Post. Die Erregung des Herzens wird in Müllers Text leicht ironisiert: "Was hat es, dass es so hoch aufspringt, / mein Herz? / Was drängt es denn so wunderlich, / mein Herz?" Die Begründung "Die Post kommt aus der Stadt, / wo ich ein liebes Liebchen hat'" wird bezeichnenderweise mit der abwiegelnden Formel "Nun ja" eingeleitet. Schubert nun gewährt dem hoch aufspringenden Herzen breite Entfaltung: die auf die Worte "mein Herz" gesungenen Töne markieren nicht nur durchwegs die melodischen Höhepunkte, sie machen auch beinahe die Hälfte aller gesungenen Notenwerte aus. (Von 56 Takten entfallen 26 auf "mein Herz", während im Text die beiden Wörter nur 8 von 74 Silben einnehmen.)
Ähnliche Beispiele liessen sich auch in anderen Liedern finden. Sie weisen alle dieselbe Tendenz auf: In Schuberts Intention führt der Ausschluss des Gesellen aus der Bürgerwelt nicht so sehr zu deren Ablehnung als zur Sehnsucht nach dem verlorengegangenen Reich der Träume. Dieser Widerspruch zwischen Müller und Schubert ist freilich nicht zufällig. Er ist verursacht durch ihre unterschiedliche persönliche Situation. "Im Winter 1821/22, als die Gedichte oder doch ihr grösster Teil entstanden, war Müller ein halbes Jahr glücklich verheiratet; seine berufliche Situation hatte sich gefestigt, und wenn er auch zuweilen aus Dessau fortwollte, dann doch nicht um den Preis sozialer Sicherheit. Der Schluss drängt sich auf, dass der Dichter die übernommenen und weiterentwickelten Kunstmittel des 'neuen Volksliedes' zum Ausdruck eines Welt- und Zeitbewusstseins einsetzte, das er selbst nicht durchaus teilte, dessen zeittypische Bedeutung er aber im Innern stark empfand. Die 'Winterreise' ist keine Erlebnisdichtung; das hat die geschlossene, geprägte Form ihrer Gedichte nur unterstützt."29
Anders Schubert. Sein Leben hatte manches mit dem des Gesellen gemeinsam. Selbst aus äusserst ärmlichen Verhältnissen stammend, verliebte er sich 1815 in Therese Grob, deren Familie eine kleine Seidenfaktorei besass. "Die Liebesaffäre zwischen ihr und Schubert sei, so sagt man, wegen seiner ungewissen Situation und der Unwahrscheinlichkeit, jemals ein zuverlässiger Ernährer zu werden, zu Ende gegangen. Therese versicherte sich ihres täglichen Brotes: sie liess die Schubertepisode hinter sich, als sie am 21. September 1820 den Bäckermeister Johann Bergmann heiratete."30 Schuberts materielle Lage war zeitlebens miserabel, er war immer wieder auf die Unterstützung besser gestellter Freunde angewiesen. Auch als Komponist musste sich Schubert ausgeschlossen fühlen. Die Verleger behandelten ihn demütigend, beispielsweise lehnte der Leipziger Verleger Probst Klavierstücke, die später den Moments musicaux eingegliedert wurden, mit der Begründung ab, er sei mit Arbeit überbürdet, da er gerade das Gesamtwerk Kalkbrenners herausbringe. Erst im Todesjahr konnte er nach langen Bemühungen den ersten öffentlichen Konzertabend mit eigenen Werken veranstalten. "Die Wiener Blätter ignorierten das Ereignis samt und sonders. Die bevorstehende, für drei Tage danach zu erwartende Ankunft des Violinvirtuosen Paganini nahm ihre Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch."31
Die ironische Distanz, mit welcher Müller seinen Gesellen ausstattete, konnte Schubert nicht übernehmen. Zu sehr war er selbst vom Schicksal des Ausgestossenen betroffen, zu gross war seine Sehnsucht, im aristokratisch-bürgerlichen Wien Glück und Anerkennung zu finden.
Was bedeutet nun einfühlendes Singen in Müller/Schuberts Winterreise?
Um dies zu konkretisieren, sei zunächst protokolliert, wie Dietrich Fischer-Dieskau, der vielen Kritikern und andern Musikliebhabern als bedeutendster Liedersänger der letzten zwanzig Jahre gilt, das erste Lied, Gute Nacht32, interpretiert33. "Fremd bin ich eingezogen": Fischer-Dieskau belegt "fremd" mit einem kleinen Seufzer, wie er überhaupt diesen Satz durch Dehnungen verweichlicht.
"Die Mutter gar von Eh'": Da das Versprechen gebrochen wurde, ist Fischer-Dieskaus Tonfall bei der Wiederholung dieses Satzes trotzig-empört.
"Nun ist die Welt so trübe": Fischer-Dieskau mag nur mit hängenden Mundwinkeln davon singen.
"Die Liebe liebt das Wandern, / fein Liebchen, gute Nacht, / von einem zu dem andern, / fein Liebchen, gute Nacht.": Fischer-Dieskau zerlegt den Satz in zwei mal zwei Teile; den jeweils ersten singt er mit schicksalsschweren Betonungen auf "Liebe", "Wandern", "seinem", "andern", den jeweils zweiten zärtlich und lieb.
"Will dich im Traum nicht stören, / wär schad' um deine Ruh, / sollst meinen Tritt nicht hören, / sacht, sacht die Türe zu!": Und möglichst auch den Mund zu, denn das arme Mädchen könnte ja durchs Singen geweckt werden, scheint Fischer-Dieskau zu denken. "Schreib im Vorübergehen / ans Tor dir: 'Gute Nacht!' / damit du mögest sehen, an dich hab' ich gedacht." Erregter Tonfall auf "Gute Nacht!". Zur Hervorhebung des Wortes "dich" verfällt Fischer-Dieskau ins Schmieren. Bei der Wiederholung der Strophe verlagert er den pathetischen Akzent auf gedacht.
In seinem Buch Auf den Spuren der Schubert-Lieder bezeichnet Fischer-Dieskau die Winterreise als "intimes Tagebuch der Seele" und knüpft daran die Frage, ob man dieses überhaupt öffentlich singen, "vor den unterschiedlich interessierten Ohren der Hörer ausbreiten" solle. Die Antwort fällt (natürlich!) positiv aus: "Man sollte keine Scheu vor dem vereisenden Eindruck haben, den diese Lieder in der richtigen Wiedergabe […] hervorrufen."34 So versucht er denn, die Seelenregungen, die er im Text zu entdecken meint, möglichst plastisch seinem Publikum zu vermitteln. Dabei geht er so weit, auch Dinge, die der Geselle beschreibt, aber mit seiner Empfindung nichts zu tun haben, zu versinnlichen. Ein treffliches Beispiel ist die Stelle "Was soll ich länger weilen, / dass man mich trieb hinaus? / Lass irre Hunde heulen / vor ihres Herren Haus", wo Fischer-Dieskau durch das heftige Tremolieren der Stimme just das Heulen nachahmt, von dem sich der Geselle distanziert. So verwandelt sich Einfühlung ins Subjekt zur Einfühlung schlechthin, das Lied tendiert zum Hörspiel. Das lyrisch-psychologisierende Moment verdrängt das episch-erzählende. Die Konsequenzen sind gravierend. Nicht nur wird die Deutlichkeit der Aussprache und Satzgliederung oft der "Stimmung" geopfert, auch der Sinnzusammenhang mancher Strophe geht verloren. Wenn man die Strophe "Die Liebe liebt das Wandern…" (s. o.) so singt wie Fischer-Dieskau, verfehlt man gerade die ironische Pointe, dass es eben nicht das von Gott auferlegte Schicksal ist, das den Gesellen hinaustreibt, sondern das Liebchen, das sich zu fein ist für den Gesellen.
Überhaupt kann eine so naiv-identifizierende Vortragsweise die Ironie in Müllers Texten nicht umsetzen. Da Schubert solche Stellen oft für bare Münze nimmt, müssten Mittel gesucht werden, die Textintention gegen die Tendenz der Musik zu behaupten. Allzu billig ist es, die Widersprüche zugunsten des Letztbietenden, also des Komponisten, aufzulösen – ganz abgesehen davon, dass sie ein aufmerksamer Hörer dann als Sinnwidrigkeiten wahrnimmt. Fischer-Dieskau produziert allerdings auch Sinnwidrigkeiten, für die nicht Schubert verantwortlich gemacht werden kann. Das heulende Pathos, das er den Worten "dich" und "gedacht" in der letzten Strophe von "Gute Nacht" aufdrückt, verträgt sich schlecht mit der Absicht des Gesellen, das Heulen den Hunden zu überlassen und der Tatsache, dass der Geselle diese Worte "im Vorübergehen" ans Tor schreibt.
Hebt also Schubert – wie wir gesehen haben: verständlicherweise – zuweilen die Distanz zum Subjekt der Gedichte auf, so geht Fischer-Dieskau in dieser Richtung noch weiter: er gibt nicht nur vor, selbst der Winterreisende zu sein (schon das ein arger Betrug, ist er doch in Wirklichkeit gutbezahlter Konzertreisender), er unterschiebt dem Subjekt auch noch seine eigenen Spiesser-Vorstellungen, wenn er etwa den Gedanken an eine verlorene Liebe ohne weiteres mit Schluchzen besetzt. Ganz allgemein versagt eine solch einfühlende Vortragsweise vor der Dialektik der Begriffe. Sie ersetzt sie durch plumpen Dualismus: Ausdrücke wie "fremd", "trüb" werden einseitig negativ, solche wie "Traum", "Ruhe" einseitig positiv gewertet, während der Text doch den Trug der Ruhe, des Traums aufdeckt und die Fähigkeit, diese Illusionen abzulehnen, dem Gesellen gerade in der Fremde zuwächst.
Die einfühlende Vortragsweise leistet einer Auffassung Vorschub, welche die Winterreise als schauerliches, quasi überzeitliches Privat-Schicksal sieht. In unserer Betrachtung des Textes haben wir jedoch festgestellt, dass im Verlaufe des Zyklus' der sozialkritische Aspekt immer stärker hervortritt, abgesehen davon, dass auch die Liebesgeschichte nur in ihrem sozialen Gehalt richtig zu verstehen ist und die Figur des Gesellen einem ganz bestimmten historisch-klassenmässigen Zusammenhang angehört.
Wie die Winterreise m. E. angemessener darzustellen wäre, lässt sich an dieser Stelle nur in allgemeiner Weise sagen. Es müsste im einzelnen durch praktisches Ausprobieren gefunden werden. Die Grundhaltung wäre erzählend. Dies nicht nur, um eine in Wirklichkeit nicht gegebene Unmittelbarkeit zu vermeiden, sondern auch, weil das Werk selbst es in hohem Masse erfordert. Der Ton von Müllers Gedichten ist volkstümlich. Darüber äusserte sich Heinrich Heine in einem Brief an den Dichter 1826: "Ich glaube erst in Ihren Liedern den reinen Klang und die wahre Einfachheit, wonach ich immer strebte, gefunden zu haben. Wie rein, wie klar sind Ihre Lieder, und sämtlich sind es Volkslieder. […] dass mir durch die Lektüre Ihrer '77 Gedichte'35 zuerst klargeworden, wie man aus den alten vorhandenen Volksliedformen neue Formen bilden kann, die ebenfalls volkstümlich sind, ohne dass man nötig hat, die alten Sprachholprigkeiten und Unbeholfenheiten nachzuahmen."36 Wenngleich Schuberts Musik die Dimension der subjektiven Innerlichkeit stärker betont, so behält sie doch den volkstümlichen Tonfall bei. Ihn verfehlt, wer das Werk zu einem Seelengemälde aufmöbelt. Die Haltung des Sängers als Erzähler, der Emotionen mehr zitiert, andeutet, als "erlebt", trifft ihn weit besser. Alles Dumpf-Schicksalhafte ist zu vermeiden. Sätze wie: "Unsre Freuden, unsre Leiden, alles eines Irrlichts Spiel"37 sollte der Sänger nicht wie ewige Wahrheiten verkünden. Durch Nicht-Identifikation kann er einen solchen Satz in seiner durch die Umstände – in diesem Fall: der totalen Isolation – bedingten Unrichtigkeit erkennbar machen, ohne ihn deswegen nicht ernst zu nehmen. Grösste Aufmerksamkeit ist der Verständlichkeit des Textes zuzuwenden. Wo diese von Schubert verdunkelt wurde, sind Kunstgriffe nötig, um sie zu gewährleisten. Beispielsweise vermöchte im Lied Im Dorfe (s. o.) vielleicht eine Zäsur vor dem Wort "Kissen" und eine im Gegensatz zum Vorhergehenden unterkühlte Artikulation dieses Wortes die Ironie der Strophe zu bewahren. Da eine Zurücknahme des Überschwanges, mit dem Schubert "mein Herz" im Lied Die Post (s. o.) komponiert hat, nicht möglich ist, könnte die vom Text beabsichtigte Ironisierung des Herzens gerade durch Betonung des Gegensatzes zwischen den Gefühlsausbrüchen und der Schlichtheit der übrigen Stellen erzielt werden. Dies ergäbe eine Darstellung, welche die Textintention erhält, ohne der Musik Gewalt anzutun.
Fassen wir zusammen: Die Volkstümlichkeit der Winterreise ist gerade durch naive Einfühlung nicht zu erreichen. Zu ihrer Realisierung bedarf es der Anwendung analytischen Verstandes und vielfältiger Kunstmittel der Darstellung. Wer dies als paradox zurückweisen will, mag bedenken, dass die Volkstümlichkeit der Winterreise eben keine unmittelbare, sondern eine mit Raffinement hergestellte ist. Ein weiterer Einwand, der mit Sicherheit gegen die skizzierte Konzeption vorgebracht wird, lautet, eine solche Darstellung wäre gefühllos. Das stimmt nicht. Sie ruft nur eine andere Emotion hervor. Eine Emotion, die "mehr der Erregung von Leuten, die Öl finden (oder einen wahrhaft nützlichen Menschen), als der von Kindern, die auf dem Karussell fahren"38, gleicht.
Wir sehen also, dass die Einfühlung auch dort, wo der Ausführende das Subjekt der Komposition darstellt, kein allgemein gültiges Prinzip sein kann. Dabei sei nicht bestritten, dass es Musik gibt, die tatsächlich nichts anderes als die Illustration einer individuellen Seelenregung zum Inhalt hat. In solchen Fällen ist die einfühlende Interpretation ihrem Gegenstand möglicherweise angemessen. Doch selbst noch die Entscheidung darüber bedarf der analysierenden Überlegung.

V.

Es ist unerlässlich, hier noch kurz auf einen Abschnitt von Brechts Schauspielkritik einzugehen, der aus den eingangs erwähnten Gründen für die Kritik der herrschenden Musikinterpretation vermutlich relevanter ist als für die der heutigen Theaterpraxis. Der Abschnitt trägt den Titel "Das Ansetzen des Nullpunktes", und es heisst darin: "Viele, darunter sogar Künstler, gönnen dem Nüchternen überhaupt keinen Platz innerhalb der Kunst. Sie ist ihnen etwas Rauschartiges. Es heisst nun nicht, dem Trunkenen keinen Platz mehr innerhalb der Kunst zu gönnen, wenn man dem Nüchternen einen solchen verschafft. Wie hoch immer sich diese zarten, stürmischen und vagen Gebilde der Kunst erheben mögen, sie brauchen doch einen Boden. Meist verschwimmt nun dieser mehr als ihr Giebel. Und doch sind es die Zeiten des Verfalls, wo diese Inflationen passieren, diese Entwertungen der einfacheren Gefühle, diese Aufblähung, die beileibe kein Wachstum bedeutet, eher eine Schwindung der Substanz."39
Diese Kritik trifft all jene Geiger, Cellisten und Sänger, die keinen Moment ohne ein bestimmtes Quantum Vibrato auskommen, aber auch die Pianisten, die mindestens bei Musik des 19. Jahrhunderts nie aufs rechte Pedal verzichten können. Hanns Eisler klagte: "Wissen Sie, ich traue mich ja überhaupt schon gar nicht mehr, in einem Takt eine ganze Note mit einem Legato-Bogen vom e zum g zu führen. Nämlich – da gibt es ein grosses Vibrato – das klingt alles wie Rachmaninow! […] Als ich mir gestern das Band von Meyers Klavierkonzert anhörte: das Schluchzen der Streicherbegleitung – es war einfach unerträglich! Wir sind ja keine vierzehn- und sechzehnjährigen jungen Mädchen und Knaben, die fortwährend schluchzen."40
Viele Musiker neigen dazu, aus allem und jedem etwas zu "machen". Die groteske Konsequenz dieser Haltung ist die in vielen Aufführungen von Konzerten für Soloinstrument und Orchester zu beobachtende Tatsache, dass Solisten auch dort ihren Part zum grossen Ereignis aufplustern, wo er bloss begleitende, ornamentale Funktion hat. Um nur eines von vielen Beispielen anzuführen: Im zweiten Satz des fünften Klavierkonzerts von Beethoven begleitet der Pianist die Reprise des Themas mit schablonenhaften Akkordbrechungen. Berlioz führt in seiner Instrumentationslehre diese Stelle als Beispiel für die Verwendung des Klaviers als Orchesterinstrument an.41 Dessenungeachtet spielen die meisten Pianisten sie hervortretend und "ausdrucksvoll". Verstärkt wird der Pseudo-Tiefsinn noch durch die übliche Tempowahl, die den Zusatz "un poco mosso" hinter dem "Adagio" ignoriert. Überhaupt ist das Verschleppen des Tempos von langsamen Sätzen, insbesondere von nicht sehr langsamen wie "Andante" oder "Larghetto" ein verbreitetes Übel. Man sage nicht, Tempo sei reine Geschmackssache. Bei Beethoven z. B. existieren objektive Anhaltspunkte, da er einige Werke mit Metronomzahlen versehen hat. Ich greife die zweite Sinfonie in der von Georg Solti geleiteten Platten-Aufnahme42 heraus – es könnte ebensogut eine andere Sinfonie mit einem andern Dirigenten sein. Beethoven gibt folgende Tempi an: Allegro con brio, Halbe = 100; Larghetto, Achtel = 92; Scherzo, Drei Viertel = 100; Allegro molto, Halbe = 152. Dagegen Soltis Tempi: 90/60/100/148. Während die Tempi der schnellen Sätze also stimmen oder relativ geringfügig abweichen, ist das Larghetto massiv zu langsam.43
Die Absicht ist klar: Es soll Tiefsinn produziert werden, und damit er gekauft wird, muss er ordentlich dick aufgetragen werden. Was Brecht an Schauspielern kritisierte, gilt fast mehr noch für Musiker: "Unsere Schauspieler beginnen beinahe alle 'zu hoch', in zu grosser Spannung, versuchend von allem Anfang an, das Letzte zu geben. Dazu zwingt sie nur ihre Angst, dass ihnen im Zeitalter des Kommerzes sonst die Rolle abgenommen wird."44 Hic iacet lepus in pipere! Die Übertreibung entspricht offenbar ebenso wie die eng mit ihr verbundene Einfühlung dem Bedürfnis eines Publikums, für das Kunst, und ganz besonders Musik, eine Art Rauschgift ist. Brecht beschreibt das Konzertsaal-Publikum so: "Wir sehen ganze Reihen in einen eigentümlichen Rauschzustand versetzter, völlig passiver, in sich versunkener, allem Anschein nach schwer vergifteter Menschen. Der stiere, glotzende Blick zeigt, dass diese Leute ihren unkontrollierten Gefühlsbewegungen willenlos und hilflos preisgegeben sind. Schweissausbrüche beweisen ihre Erschöpfung durch solche Exzesse. Der schlechteste Gangsterfilm behandelt seine Zuhörer mehr als denkende Wesen."45 Nüchternheit und Distanz lösen bei solchen Leuten Katzenjammer aus. Sie wollen sich einfühlen in die "Seele" des Künstlers, wollen teilhaben an einer Welt, die ihnen als harmonisches Gegenbild zur realen erscheint. Empfindlich reagieren sie auf alles, was diese Einfühlung stört. Und die Künstler, im Glauben, nur ihren eigensten Gefühlen zu gehorchen, erfüllen die ihnen vom staatlich subventionierten Rauschgifthandel übertragene Rolle trefflich.
Indessen: "Was helfen alle Proteste, wenn wir eben alle Rauschgifte nötig haben, und wie soll man in einer Verfallszeit Merkmale für eine Aufbauzeit errichten?"46 Ich gestatte mir, in Brechts Antwort an die Stelle von "Theater" das Wort "Musik" zu setzen: "Wenn man mit der so beschriebenen Art, Musik zu spielen, nicht gut fertig werden kann, wenn man ihr, trotz aller Mängel und möglichen Schädlichkeiten, eine gewisse Unentbehrlichkeit in unserer Welt, wie sie heute ist, zuerkennen muss und nicht erwarten darf, dass die Musik der beschriebenen Art aufhören wird, bevor diese Welt sich geändert hat oder sich anschickt zu ändern, so kann man doch auch nicht sagen, dass eine andere Art, Musik zu spielen, heute unmöglich oder gar unsinnig wäre."47

1Hanns Eisler: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Berlin 1976, S. 239
2Hanns Eisler: ebenda S. 267
3Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis, Leipzig 1977, S. 233ff.
4Zum Begriff der intersozialen Aneignung führt Georg Knepler, ebenda S. 227, aus: "Wenn soziale Grenzen und Schranken aus allgemein gesellschaftlichen Gründen durchlässig zu werden tendieren, tritt ein Phänomen ein, das grösste Aufmerksamkeit verdient: An verschiedenen Orten der Klassengesellschaft wenden Individuen ihre Aufmerksamkeit geistigen Errungenschaften zu, die in ganz anderen als ihren eigenen Kreisen entstanden sind."
5Zitiert nach Knepler: ebenda S. 217
6Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche ("Über die Hegelsche Dialektik") in: Werke Bd. 14 Frankfurt a. M. 1967, S. 1461
7Wolfgang Amadeus Mozart: Sämtliche Streichquartette, Quartetto Italiano, Philips 6747097
8Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartette A-Dur KV 464, C-Dur KV 465, Alban Berg-Quartett, Telefunken 642178 AW
9August Halm: Von Grenzen und Ländern der Musik, München 1916, S. 210f.
10August Halm: ebenda S. 212
11August Halm: ebenda S. 208
12Zu diesem Genre gehören u. a. Mozarts Divertimenti KV 136–138
13Die sechs Haydn gewidmeten Quartette waren kein "Himmelsgeschenk". Im Widmungsbrief nennt Mozart sie "die Frucht einer langen und mühevollen Anstrengung".
14Brief an den Vater; Wien, den 28. Dezember 1782
15"Das Mittelding in allen Sachen kennt und schätzt man jetzt nimmer. Um Beifall zu erhalten, muss man Sachen schreiben, die so verständlich sind, dass es ein Fiaker nachsingen kann, oder so unverständlich, dass es ihnen, weil es kein vernünftiger Mensch verstehen kann, gerade eben deswegen gefällt." Brief an den Vater; Wien, den 28. Dezember 1782
16"Es war zugleich jenes Werk, das mehr als jedes andere das Kopfschütteln und Befremden der Nachwelt, die es 'Dissonanzen-Quartett' nannte, hervorrief. Warum? Weil der unheimlich geschärfte Ton der Musik, weil ihre spannungsreiche Intensität die Partitur zum Psychogramm, zum Spiegelbild einer nahezu unbekannten, vielschichtigen Individualität hatten werden lassen." Ekkehard Kroher im Begleittext der Schallplatte DG 2530 468: Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett C-Dur KV 465 u. a., Tokyo String Quartet
17Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett C-Dur KV 465 u. a. Amadeus-Quartett, DG 139 190
18August Halm: ebenda S. 213
19"Gute Nacht"
20"Die Wetterfahne"
21"Gute Nacht"
22"Die Wetterfahne". In diesem Titel ist der Opportunismus des Mädchens und ihrer Familie bildlich erfasst.
23"Der Lindenbaum"
24Ich gehe in dieser Betrachtung der Texte Müllers von der originalen Reihenfolge aus. Dass sie in Schuberts Vertonung anders geordnet sind, hat einen rein äusserlichen Grund. "Das Manuskript der ersten zwölf Lieder aus der 'Winterreise' trägt das Datum 'Februar 1827'; es zeigt den Zeitpunkt an, zu dem Schubert sich daran machte, das erste Lied, 'Gute Nacht', sauber abzuschreiben. Er hatte diese zwölf 'Winterreise' betitelten Gedichte in einem 'Urania' genannten, 1823 in Leipzig veröffentlichten Almanach gefunden. […] Im Spätsommer 1827, nachdem die ersten zwölf Lieder fertig geworden waren, stiess Schubert auf Müllers vollständige und endgültige Version des Zyklus'. […] Dieser enthielt 24 Gedichte; aber die neuen bildeten nicht einen Anhang zu den zwölf ursprünglichen; sie waren vielmehr an verschiedenen Stellen eingestreut. […] Als Schubert Müllers endgültige Fassung entdeckte, vertonte er die zwölf zusätzlichen Gedichte, indem er sie nahm, wie sie sich ihm boten; in dieser Folge fügte er sie den zwölf im 1827 komponierten Vertonungen an. Es ist oft behauptet worden, Schubert habe die Reihenfolge der Müllerschen Gedichte geändert; er tat dies indessen, wie obige Darstellung deutlich macht, nicht absichtlich." Zitiert aus: Maurice J. E. Brown: Schubert, eine kritische Biographie, Wiesbaden 1969, S. 249.
Ich plädiere nachdrücklich dafür, die originale Reihenfolge wiederherzustellen. Die heute übliche Reihenfolge ergibt Sinnwidrigkeiten, die ein richtiges Verständnis des Zyklus' verunmöglichen. So ist es z. B. absurd, wenn sich der Geselle schon im neunten Lied, "Irrlicht", in totaler Isolation befindet und dann später der Post begegnet, die ihn an das Liebchen in der Stadt erinnert, wie denn überhaupt durch die Umstellung die Verwandlung des Liebesschmerzes in Weltschmerz, also die Bewegung vom Privaten ins Allgemeine, unter den Tisch fällt. Da sie indes ein zentraler Gedanke des Zyklus' ist, müsste die originale Müllersche Reihenfolge ungeachtet eventueller musikalischer Bedenken eingehalten werden. Sie lautet: Gute Nacht – Wetterfahne – Gefrorne Tränen – Erstarrung – Der Lindenbaum – Die Post – Wasserflut – Auf dem Fluss – Rückblick – Der greise Kopf – Die Krähe – Letzte Hoffnung – Im Dorfe – Der stürmische Morgen – Täuschung – Der Wegweiser – Das Wirtshaus – Irrlicht – Rast – Die Nebensonnen – Frühlingstraum – Einsamkeit – Mut – Der Leiermann.
25Bei Wilhelm Müller und anderen kritischen Dichtern seiner Zeit wie Herwegh und Heine kommen oft Naturbilder als Metaphern für politische Verhältnisse vor.
26"Das Wirtshaus"
27"Mut"
28"Der Leiermann"
29Günter Hartung: "Wilhelm Müller und das deutsche Volkslied", Weimarer Beiträge 1977/5, S. 74
30Maurice J. E. Brown: ebenda S. 26/27
31Maurice J. E. Brown: ebenda S. 277
32Der vollständige Liedtext lautet: "Fremd bin ich eingezogen, / fremd zieh ich wieder aus. / Der Mai war mir gewogen / mit manchem Blumenstrauss. / Das Mädchen sprach von Liebe, / die Mutter gar von Eh' – / Nun ist die Welt so trübe, / der Weg gehüllt in Schnee. / Ich kann zu meinen Reisen / nicht wählen mit der Zeit, / muss selbst den Weg mir weisen / in dieser Dunkelheit. / Es zieht ein Mondenschatten / als mein Gefährte mit, / und auf den weissen Matten / such ich des Wildes Tritt. / Was soll ich länger weilen, / dass man mich trieb hinaus? / Lass irre Runde heulen / vor ihres Herren Haus; / die Liebe liebt das Wandern – / Gott hat sie so gemacht – / von einem zu dem andern. / Fein Liebchen, gute Nacht! / Will dich im Traum nicht stören, / wär schad' um deine Ruh', / sollst meinen Tritt nicht hören – / sacht, sacht die Türe zu! / Schreib' im Vorübergehen / ans Tor dir: 'Gute Nacht!' / Damit du mögest sehen, / an dich hab ich gedacht."
33Franz Schubert: Winterreise, Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton, Jörg Demus, Klavier, DG 2726 058, Aufnahme 1966
34Dietrich Fischer-Dieskau: Auf den Spuren der Schubert-Lieder, Wiesbaden 1971, S. 298/299
35Es handelt sich um die "77 Gedichte aus den hinterlassenen Papiere eines reisenden Waldhornisten". Die "Winterreise" bildet den zweiten der drei Teile dieser Sammlung.
36Heinrich Heine: Werke und Briefe, hg. von H. Kaufmann, Band 8, S. 237f.
37"Irrlicht"
38Bertolt Brecht: Werke Bd. 15. Schriften zum Theater 1, Frankfurt a. M. 1967, S. 490
39Bertolt Brecht: ebenda S. 375
40Hanns Eisler: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Berlin 1976, S. 302
41Hector Berlioz/Richard Strauss: Instrumentationslehre, Leipzig 1955, S. 166ff.
42Ludwig van Beethoven: Sämtliche Sinfonien, Chicago Symphony Orchestra, Georg Solti, Decca 11 BB 188–96
43Das oft vorgebrachte Argument, Beethovens Metronom sei nicht intakt gewesen, greift hier nicht. Es ist ja unmöglich, dass ein Metronom mal richtig (3. Satz), mal krass falsch läuft (2. Satz). Mit anderen Worten: Wenn man die absoluten Werte für unrealisierbar hält (was sie in diesem Fall nicht sind), müsste man wenigstens die Relationen der angegebenen Tempi einigermassen berücksichtigen.
44Bertolt Brecht: ebenda S. 375
45Bertolt Brecht: ebenda S. 480
46Bertolt Brecht: ebenda S. 340
47Bertolt Brecht: ebenda S. 340

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